: Ministerpräsident übt das Zeichensetzen
In der Schönebecker Berufsschule erklärt Sachsen-Anhalts Landesvater Wolfgang Böhmer den Teenagern: Stark gegen rechts sollen sie sein. Eine Verbrennung des Tagebuchs der Anne Frank darf nicht passieren. Doch was sollen die Schüler dazu sagen?
AUS SCHÖNEBECKASTRID GEISLER
Als der Ministerpräsident sich in dunkelblauem Anzug vor den Schülern aufbaut, wird es still in den Reihen. Ein Mädchen hält ihr Handy hoch, um den Augenblick mit der Kamera festzuhalten. „Liebe junge Freunde“, sagt Wolfgang Böhmer. Er spricht wie ein Großvater, der seinen Sprösslingen ins Gewissen reden muss. „Mit der Verunglimpfung anderer Staaten und der Verhöhnung der Opfer früherer Diktaturen werden wir uns nicht abfinden. So etwas kann man nicht einfach hinnehmen. Wir sind verpflichtet, ein Zeichen zu setzen.“
Ein Zeichen setzen – darum geht es an diesem Morgen im Berufsschulzentrum von Schönebeck, und es ist kein Zufall, dass sich der CDU-Politiker diesen Ort ausgesucht hat. Vor knapp drei Wochen verbrannten Neonazis im gut 15 Kilometer entfernten Pretzien vor den Augen der Dorfbevölkerung das „Tagebuch der Anne Frank“ und eine US-Flagge.
Gut 80 Prozent der Jugendlichen dieses Landkreises in Sachsen-Anhalt machen auf ihrem Weg ins Berufsleben in dieser Schule Station. Schüler aus Pretzien, auch Schüler aus dem nahe gelegenen Pömmelte, wo zu Jahresbeginn ein 12-jähriges Kind wegen seiner dunklen Haut misshandelt wurde. Zwei der Täter aus Pömmelte besuchten diese Schule. „Wir mussten die beiden nach der Tat regelrecht vor den Mitschülern schützen“, berichtet Schulleiter Ronald Rumpf. „Die wären hier nicht mehr gesund aus der Schule gekommen.“
Rechtsradikalismus ist also nichts ganz Neues für die jungen Zuhörer des Ministerpräsidenten. Neu ist aber der Rummel. Fernsehteams haben sich am Rande der Reihen aufgebaut, Kameras klicken, Sicherheitsleute mit Knopf im Ohr sitzen in der ersten Reihe. Böhmer hat den Generalkonsul der USA, Mark Scheland, mitgebracht, den Landtagspräsidenten, die Justizministerin. Und weil es um das „Tagebuch der Anne Frank“ geht, sitzt da auch noch einer, der besonders gut vorlesen kann: der Schauspieler Peter Sodann, bekannt als „Tatort“-Kommissar.
Die Gäste lesen den Schülern Passagen aus dem Tagebuch vor, das nur einige Kilometer weiter geschändet wurde. Der Ministerpräsident, der Konsul, der Landtagspräsident, die Justizministerin – und zum Abschluss der Mann aus dem „Tatort“. Es ist ein Lesezirkel, wie ihn Sachsen-Anhalt noch nicht erlebt hat. Die Schüler haben aufs Sportfest verzichtet, um dabei zu sein. Sie scheinen den Mienen und Stimmen der Gäste vorne anzumerken, dass es ihnen ernst ist. Keiner tuschelt, niemand feixt.
Nur, was sollen sie selbst dazu sagen? Außer, dass es auch bei ihnen im Ort rechtsradikale Cliquen gibt, dass sie mit denen nichts zu tun haben wollen? „11.10 Uhr, Diskussion mit Schülerinnen und Schülern“, gibt das Programm vor. Dazu kommt es nicht. Nach so vielen mahnenden Worten, so vielen Appellen zu Zivilcourage und Toleranz traut sich kaum noch ein Teenager aus der Deckung.
Und einiges, was gesagt wird, lässt auch das Podium erst mal verstummen. Ein Mädchen tritt aufgeregt vor den Saal: „Vor einigen Monaten bin ich selbst als Judenfotze beschimpft worden. Das find ich schon ein bisschen krass.“ Warum, ruft sie, könne man solche Leute nicht richtig wegsperren? „Blut ist rot!“ Schulleiter Ronald Rumpf blickt irritiert, bittet die Schüler, auf ihre „Worte aufzupassen“.
Auch das Zeichensetzen gegen rechts hat seine Unwägbarkeiten. Und Ministerpräsident Böhmer, immerhin seit 2002 erster Mann des Bundeslandes mit den meisten rechtsextremen Straftaten pro Einwohner, ist bisher kein Profi in dieser Disziplin. Erst einmal, gibt er später zu, habe er überhaupt an einer solchen Veranstaltung teilgenommen. Fast drei Wochen sind verstrichen seit der Bücherverbrennung. Nun versichern alle, dass die Arbeit mit den Jugendlichen gegen rechts intensiviert werden soll. Mehr Geld, räumt Böhmer ein, habe er dafür allerdings nicht zur Verfügung.
„Tatort“-Kommissar Sodann wirkt am Ende zerknirscht. „Manchmal“, sagt er bei der abschließenden Pressekonferenz, „frage ich mich, wie wir dieses Problem hier eigentlich behandeln.“ Wenn etwas wie in Pretzien geschehe, werde schnell mal eine Veranstaltung organisiert. „Und hinterher ist dann nichts mehr.“ Ministerpräsident Böhmer blickt aus dem Fenster. Das hat ihm gerade noch gefehlt.