: Balanceakt mit der Banalität des Bösen
ABGRUND Die brisante Frage, ob der Zivilisationsbruch namens Auschwitz auf der Bühne darstellbar ist, beantwortet Mieczylaw Weinbergs Oper „Die Passagierin“ eindeutig mit einem Ja. Die Bregenzer Festspiele eröffnen jetzt eindrucksvoll mit ihrer szenischen Erstaufführung
VON JOACHIM LANGE
Das eigentlich Interessante der Bregenzer Festspiele sind nicht die lukrativen Freiluftspektakel auf der weltweit größten Seebühne im Bodensee. Sondern es sind die ambitionierten Schwerpunkte daneben. Der aktuelle ist dem 1919 in Polen geborenen und 1996 in Moskau verstorbenen, nahezu vergessenen Schostakowitsch-Schüler Mieczyslaw Weinberg gewidmet. 1941 entkam er vor den Deutschen in die Sowjetunion, während Eltern und Schwester den Nazis zum Opfer fielen. In Moskau geriet er als Jude dann, nach Kriegsende, in den antisemitischen Strudel. Nur Schostakowitschs Einsatz und Stalins Tod 1953 bewahrten ihn vor dem Schlimmsten. Weinbergs Leben war also mit so gut wie allen großen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts verwoben – vom Holocaust bis zum Gulag.
Erzählende Tonalität
Mit der 1968 vollendeten und erst vor vier Jahren in Moskau konzertant uraufgeführten Oper „Die Passagierin“ wurde jetzt in Bregenz eröffnet. Und die hat es nach wie vor in sich. Jedoch nicht, weil hier eine unbekannte Musikmoderne das Publikum irritieren würde. Weinbergs Oper bleibt einer theatertauglichen, emotional ausschwingenden, erzählenden Tonalität verpflichtet, vor allem seinem Mentor Schostakowitsch verpflichtet. Lakonisches Parlando wechselt mit nahezu unverstelltem Pathos und Zitate mit schlichten Liedern. Weinberg schert sich zwar wenig um die Gebote einer neuerungsverpflichteten Avantgarde, erspart sich aber auch jeglichen Umweg in Richtung Publikum. Dass Weinbergs bühnenwirksame Musik auch im Bregenzer Festspielhaus direkt „ankommt“, dafür sorgt der junge, seit 2003 als Chefdirigent im fernen Nowosibirsk wirkende Grieche Teodor Currentzis am Pult der Wiener Symphoniker mit vehementem Einsatz und seiner Affinität zur russischen Musik auch des 20. Jahrhunderts.
Bei der „Passagierin“ ist die Geschichte die Herausforderung und das Problem. Die Oper beantwortet nämlich die heikle Frage, ob der zivilisatorische Jahrhundertbruch namens Auschwitz ganz konkret auf der Bühne darstellbar ist, mit einem uneingeschränkten Ja. Alexander Medwedjews von Ulrike Patows für die deutschen Rollen im Stück ins Deutsche übersetztes Libretto basiert auf den Erinnerungen der Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz. Es war ein berührender Moment, als das Premierenpublikum der alten Dame, mit der das Produktionsteam unter Leitung von Regisseur David Pountney gemeinsam Auschwitz besucht hat, stehend applaudierte.
In der Oper befinden sich Lisa (Michelle Breedt) und ihr Mann, der Diplomat Walter (Roberto Sacca), Ende der 50er Jahre auf einer Überfahrt nach Südamerika, um dort einen neuen Posten anzutreten. An Bord begegnet ihr eine Passagierin, die sie schlagartig mit ihrer, auch ihrem Mann bisher verschwiegenen Vergangenheit konfrontiert. Lisa war nämlich KZ-Aufseherin in Auschwitz und meint in der Fremden jene Martha (Elena Kelessidi) zu erkennen, die sie für tot hielt, die aber offensichtlich doch dem Vernichtungslager entkommen ist und nun ihre bürgerliche Nachkriegsexistenz infrage zu stellen droht.
Unter dem weißen Deck des angedeuteten Hochseeliners mit all den weiß gekleideten Menschen mit ihren weiß gewaschenen Westen öffnet sich so plötzlich der Abgrund des Grauens unter dieser Oberfläche. Und zwar ganz wortwörtlich: Jetzt sieht man zwei Rampen und eine auf Schienen nach vorn rollende Übernachtungsbaracke. Mit diesem metaphorischen Realismus von Johan Engels eindrucksvoller Doppelbühne aus Gegenwart und Vergangenheit wird der Versuch der Verdrängung und dessen Scheitern vor allem der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft frappierend in einen Raum übersetzt. In seinem heiklen Balanceakt, das Ungeheuerliche der Menschenvernichtung in der ganzen Banalität seines Grauens abzubilden, überzieht Pountney eigentlich nur mit dem Entleeren der Verbrennungsöfen. Jene Passagierin, diese Martha, die eben doch überlebt hat, stößt Lisa schließlich in die Hölle ihrer eigenen Vergangenheit zurück.
„Die Passagierin“ ist ein Musiktheatermonument gegen das Vergessen. Die Oper bezieht ihre Überzeugungskraft aus einer spürbaren Authentizität ebenso wie aus der Verknüpfung von Opfer- und Täterperspektive. Sie handelt vom Kampf um das pure Überleben und einen Rest Menschlichkeit auf der einen Seite. Und von der Fassungslosigkeit der Aufseherin über den Hass in den Augen ihrer Opfer auf der anderen. Das eigentlich Perverse ist nämlich deren Wunsch nach einer Art Dankbarkeit der Opfer, wenn sie nicht sofort für die Gaskammer selektiert wurden.
Für diese Produktion ist eine Übernahme nach Warschau, London und Madrid, aber auch nach Tel Aviv, Houston und New York vorgesehen.