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Archiv-Artikel

Ein Lächeln vom Engel von Hessen

Panter-Kandidat (6): Der 50-jährige Zahnarzt Martin Ahrberg saniert Obdachlosen das Gebiss. Kostenlos

An dieser Stelle porträtieren wir jeden Samstag eineN von neun KandidatInnen für den taz-Panter-Preis

Am verabredeten Treffpunkt ist Martin Ahrberg gut bekannt: Zu Füßen des Darmstädter „Ludewigs“, einer 33 Meter hohen Sandsteinsäule mitten in der Innenstadt, kennt ihn fast jeder: Der „Ludewig“ ist auch einer der Treffpunkte der Darmstädter Obdachlosen – und so manchem von ihnen hat Ahrberg bereits die Zähne saniert, kostenlos.

„Zähne sind ein Verweis auf die soziale Herkunft, den sozialen Status. Gesunde Zähne sind eine Frage der sozialen Gerechtigkeit“, findet Ahrberg, der sich keineswegs nur als „Zahnklempner“ begreift und einen klaren Blick für gesellschaftliche Zusammenhänge hat, aus denen er entsprechende Konsequenzen für sein Handeln ableitet: Think globally, act locally. „Wir helfen in Darmstadt“, lautet das Motto des von ihm ins Leben gerufenen Vereins „Die Gesundheitsengel“.

Angefangen hatte alles mit der Fernsehsendung „Drei Engel für Hessen“ im Hessischen Rundfunk. Martin Ahrberg hatte sich im Rahmen der Sendung vorgenommen, in einer Woche fünf bedürftigen Menschen „ein neues Lächeln“ zu schenken. Gemeinsam mit seiner Frau und seinem Praxis-Team hatte er dies auch geschafft, es wurden sogar sieben – dafür wurde er von den Zuschauern mit überwältigender Mehrheit zum „Engel von Hessen“ gewählt.

Doch eine einmalige Medienaktion war ihm nicht genug, er machte von nun an weiter und fand Mitstreiter: Mit drei weiteren Ärzten, zwei Anwälten, einer Dental-Labor-Inhaberin, einer Fußpflegerin und weiteren Engagierten gründete er „Die Gesundheitsengel“. Seit der Vereinsgründung behandeln einmal wöchentlich drei Mitglieder des Vereins in der örtlichen Diakonie Obdachlose, drei Zahnärzte und ein Dental-Labor sanieren zusätzlich die Zähne von sozial schwachen Darmstädtern.

„Diese Aktion verbreitet sich allmählich wie ein Virus, gegen das man auf keine Fall impfen sollte“, sagt Martin Ahrberg schmunzelnd. „Man macht sich einfach glücklich, wenn man anderen Menschen hilft.“ Er kann davon nicht mehr genug kriegen, träumt von einer Ausbreitung des Vereins über ganz Deutschland.

„Früher hat man mal Geld gespendet, ja. Aber durch die eigene Arbeit zu helfen, die eigene Zeit, das ist eine völlig neue, unmittelbarere Erfahrung“, schwärmt der Dentist, der selbst aus kleinen Verhältnissen stammt. Obwohl er hart für seine mittlerweile sehr gut gehende Praxis in Darmstadt hat kämpfen müssen, zieht er keineswegs den Schluss daraus, dass eben jeder seines Glückes Schmied sein kann. Er kennt auch die Grenzen des Helfens: „Viele ältere Obdachlose können Sie nicht mehr verändern, die schaffen es auch nicht mehr, sich um eine vernünftige Prophylaxe zu kümmern.“

Dennoch ist er überzeugt, dass sich ein schönes Lächeln immer auch auf das Selbstbewusstsein niederschlägt, das Wohlbefinden – wer Zahnlücken oder gar keine Zähne mehr hat, traut sich meistens nicht mehr zu lachen. Mit neuen Zähnen gewinnt so mancher sein Selbstvertrauen zurück und findet eventuell zurück zu einem geordneten Leben. „Helfen? Manche wollen ja auch gar nicht, dass man ihnen hilft, sie sind Lebenskünstler, sie wollen eben draußen schlafen, lieben ihre Freiheit. Und wissen Sie, ich würde auch gerne mal auf dem Friedhof übernachten, eine himmlische Ruhe muss das sein“, erzählt Ahrberg, der im Winter auch schon mal im Garten schläft: im Zelt. So wie als Jugendlicher, als er mit dem „Christlichen Verein Junger Männer“ wandernd durch die Wälder gezogen ist. „Ich bin christlich erzogen, meine Mutter hat noch als alte Frau andere Frauen gepflegt.“ Er wandert immer noch gerne, geht tauchen in Costa Rica – und christliche Werte sind ihm Begleiter geblieben, auch wenn er zusammen mit seiner aus dem Iran stammenden Frau längst der Bahei-Religion angehört.

Jüngst ist Martin Ahrberg auch noch dem Bundesverband für Wirtschaftsförderung im Außenhandel beigetreten, er blickt weiter, als man von der Spitze des Darmstädter Ludewigs schauen kann, und vergisst doch nicht, dass es am Fuße genug zu tun gibt – während so mancher das Stichwort Globalisierung nur als Ausrede nutzt, um jegliche persönliche Verantwortung von sich zu weisen.

Nord-Süd-Gefälle, internationaler Marshallplan, sauberes Trinkwasser für alle – Martin Ahrberg weiß beim alkoholfreien Bier viel zu diesen Themen zu sagen, während über der Darmstädter Fußgängerzone die Sonne untergeht, doch in der Praxis arbeitet er schlicht mit Bohrer und Zange an einer besseren Welt. Oder sammelt Geld für „Die Tafel“, um für Obdachlose und Arbeitslose zu kochen.

„Ich habe im Frankfurt der Siebziger studiert, aber ich bin nie mit der Mao-Bibel unter dem Arm herumgelaufen.“ Ahrberg bezeichnet sich selbst als „Post-68er“, sein Studium hatte er erst im Altern von 27 Jahren begonnen, nachdem er zuvor als Zahntechniker gearbeitet hatte. „Das Studium gab mir die Chance, mich wieder mehr auf geistige Werte zu besinnen“, erzählt er rückblickend.

Zum Abschied schenkt mir Martin Ahrberg eine riesige Dose mit Birkenrinde-Kaugummis – sie sollen die Zahl der Bakterien in der Mundhöhle reduzieren und so Karies verhindert, normalerweise verteilt er sie an Schulen. „Wir haben mittlerweile die erste Generation von Kindern ohne Zahnschäden, die Prophylaxe greift, in den USA schließen sie bereits die Zahnkliniken“, freut er sich über einen weiteren Schritt in Richtung Selbstabschafffung. „Ja, darum geht es ein Stück bei der Prophylaxe“, sagt er, „nur bei den Migrantenkindern gibt es noch ziemliche Probleme, da muss man hinterher sein.“

Martin Ahrberg, der „Engel von Hessen“, kriegt einfach nicht genug vom Helfen. MARTIN REICHERT