Die K-Frage

Auch Lesben und Schwule wollen Nachwuchs: eigenen oder adoptierten. Das passt perfekt zu einer Tendenz der neuen Bürgerlichkeit, die selbst Bundespräsident Horst Köhler gut findet

VON SUSANNE LANG

Etwas war anders an diesem trüben Wintertag im Februar, als ein paar hundert Schwule und Lesben vor der Berliner Humboldt-Universität Transparente schwenkten und einen Hörsaal enterten: Ihre Stimmen fanden tatsächlich Gehör in der sonst so empörungsgewohnten Medienöffentlichkeit. Was war geschehen?

Der Anlass der Aktion immerhin war keiner, der besonders im Interesse von Homosexuellen gestanden hätte. Der erst voriges Jahr gewählte polnische Staatspräsident Lech Kaczyński absolvierte seinen Antrittsbesuch bei der deutschen Kanzlerin Angela Merkel – ein Staatsakt. Kaczyński jedoch nutzte die wohlfeile Gelegenheit, einen gewichtigen Teil seines (nicht nur innen-)politischen Programms zu propagieren, und das an einer Universität mitten in der Hauptstadt eines Landes, das die Eingetragene Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare selbst erst 2001 zum Gesetz gemacht hat. Kaczynski also teilte mit: Homosexuelle übernähmen keine Verantwortung für die Gesellschaft, da sie keine Kinder zeugten und so schlichtweg keine Existenzberechtigung in einer auf Bevölkerungssicherung getrimmten Gesellschaft hätten. „Die Zivilisation“, so der polnische Präsident, könne schließlich nur existieren, „wenn aus einem Zusammenleben auch Kinder“ hervorgingen.

In solch archaischer Logik hätte sich wohl kaum ein deutscher Politiker zu Wort gemeldet. Die diskriminierenden Anwürfe und der Gegenprotest von Homo-Organisationen dockten dennoch an eine intensiv geführte Debatte auch in Deutschland an: die K-Frage, K für all die unzähligen Kinder, die keiner mehr zeugen will, und wenn doch jemand, dann die „falschen“ Eltern: unterschichtszugehörige Kindergeldschnorrer, keine mittelschichtsaffinen, bürgerlichen AkademikerInnen. Polemisch formuliert: Kaczyński, der Rechtsaußen aus Polen, musste anreisen, um jene deutlichen Worte zu finden, die in Deutschland höchstens der FAZ-Demografieapokalyptiker Frank Schirrmacher in seinem Schwur auf die blutsverwandte Schicksalsgemeinschaft in die Medienöffentlichkeit senden würde.

Da traute sich Kaczyński etwas, was in Deutschland niemand so laut sagt: Offensichtlich verweigern sich nach dieser Logik Homosexuelle in deutlichster Form. Im gewöhnlichen Alltagsgespräch artikuliert sich diese Haltung der Heteros in Ressentiments, ganz nach der Devise: „Ihr tragt ja sowieso nichts bei zur Sicherung unserer Rente.“ Und plötzlich stehen zwei bislang autark für ihre Rechte streitenden Gesellschaftsgruppen nebeneinander am Pranger – einerseits Homosexuelle (vornehmlich Schwule) mit einer Neigung zur bürgerlichen Lebensweise und andererseits kinderlose, emanzipierte, junge Akademikerinnen. Die heterosexuellen Männer und potenziellen Väter werden gerade erst als Akteure in diesem Schuldzuweisungsszenario entdeckt.

Selbstverständlich stehen sie dort mit einem schwer wiegenden Unterschied in der persönlichen Lebensbiografie: Während Heteros aus sehr individuell differenten Gründen vielleicht noch zögern, aber im Laufe ihres Lebens einen biologisch natürlichen Kinderwunsch realisieren könnten und wollten, basiert das Coming-out, vor allem für ein schwules Leben, auf einer prinzipiellen Entscheidung: keine Kinder haben zu werden. Bisher zumindest galt diese Prämisse.

Aber auch sie ändert sich, und das erstaunlicherweise auch aus der Szene der Homosexuellen selbst heraus. Allen voran versuchen konservative Politiker seit einigen Jahren, dieses Thema für sich zu besetzen. Die Schwulen und Lesben in der Union (LSU) beispielsweise sprachen sich noch unter der rot-grünen Bundesregierung – obwohl selbst meist kinderlos – dafür aus, auch das Ehegattensplitting in die Finanzierung des damals diskutierten Familiengeldes einzubeziehen. Beim 2004 debattierten Gesetzentwurf von Justizministerin Brigitte Zypries (SPD), der ein umfassendes Adoptionsrecht für Homosexuelle schaffen wollte, plädierte Axel Hochrein, stellvertretender Bundesvorsitzender des LSU, klar für ein solches Gesetz. Es gehe schließlich um das Recht der Kinder. Oder, wie es Ulrike Anhamm, Chefredakteurin des Magazins Lespress, einmal formulierte: „Wir wollen Verantwortung für die vorangegangene und die nachfolgenden Generationen übernehmen.“

Geadelt wurde dieses Ansinnen zu Beginn dieses Jahres von keinem Geringeren als Bundespräsident Horst Köhler, der in Tutzing im Rahmen des Jahresempfangs der Evangelischen Akademie dafür plädierte, auch homosexuelle Eltern in ein modernes Familienbild einzubeziehen: „Familie ist dort, wo Kinder sind.“ Nur die CSU protestierte lauthals.

Der Gesetzentwurf für ein allgemeines Adoptionsrecht wurde zwar mit der rot-grünen Regierung vorerst beerdigt. Doch auch unter einer großen Koalition kommt der Kinderfrage im „homosexuellen Milieu“ wachsende Bedeutung zu. Allerdings mit anderen Parametern: Es wird nicht mehr politisch um Adoptionsrechte gestritten. Im Fokus steht die Teilhabe an einer propagierten neuen Kultur der Bürgerlichkeit, in deren Wertesystem die Koordinate „Kind“ einen festen Platz zugewiesen bekommt. Nicht zuletzt ein Indiz dafür, wie erfolgreich die Homobewegung in den letzten Jahren für Gleichberechtigung gestritten hat. Denn nur in einer liberalen Gesellschaft ist eine solche Teilhabe überhaupt denk- und lebbar. Daran kann, wie es scheint, auch einer der Vordenker dieser reanimierten Bürgerlichkeit, der Karlsruher Verfassungsrichter und promovierte Soziologe Udo Di Fabio, nicht rütteln.

Di Fabio klammert in seinem Entwurf dieser „Kultur der Freiheit“ homosexuelle Ehen und Familien eindeutig aus. „Zum Anspruch von Ehe und Familie auf Achtung gehört auch der Respekt vor ihrer Identität als gesellschaftliche Einrichtung“, betont er und argumentiert mit einem Diskriminierungsbedenken umgekehrten Vorzeichens. Nicht die Minderheit müsse geschützt werden, sondern die Mehrheitsgesellschaft, die ihre Institution Ehe durch gleichgeschlechtliche Familien entwertet sähe. Und dies sei „ein grundlegendes Missverständnis der Freiheit“.

Wie sehr die Teilhabe Homosexueller an der bürgerlichen Kultur dennoch von medialen Role Models vorgelebt wird, lässt sich nicht nur in der TV-Serie „Lindenstraße“ verfolgen – der ewig ersten, wenn es um das Setting von Randgruppenagenden geht. Nachdem ein schwules Paar seit Jahren einen HIV- positiven Jungen erzieht, hat sich aktuell ein lesbisches Pärchen seinen Kinderwunsch erfüllt. Auch Berlins Oberbürgermeister Klaus Wowereit (SPD) ließ nicht mehr länger darauf warten, sich bei einem öffentlich inszenierten Kitabesuch familien- und kinderfreundlich in Zeitungen ablichten zu lassen. Sein Geständnis: Das Einzige, was er in seiner Lebensbiografie bereue, sei die Entscheidung, keine Kinder zu haben.

Vernachlässigt bleibt in diesem Spiel aus gelebtem und propagiertem homosexuellem Kinderwunsch – leider – immer noch eines: die Kinder. Wie glücklich leben sie in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft oder Ehe? Wissenschaftlich ist dieser Zweig der Familienforschung noch wenig ergründet. Fest steht immerhin, dass in Deutschland etwa 50.000 gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften existieren, zu denen sich die Partner auch bekennen. Aufgrund internationaler Vergleiche schätzt man die Anzahl jedoch auf 150.000. Nur in jeder sechsten Partnerschaft wachsen bisher Kinder auf, insgesamt etwa 11.000. Meist sind sie zu jung, als dass man bei ihnen längerfristige Entwicklungsunterschiede gegenüber Kindern aus traditionellen Ehen oder eventuelle negative Folgen für die Entwicklung fundiert erfassen könnte.

Umso schwerer wiegen die ideologischen Argumente in der Diskussion um das vermeintliche Kindeswohl. Konservative Kritiker halten homosexuellen Eltern vor, ihren Kinderwunsch für einen gesellschaftlichen Machtkampf um Gleichstellung zu instrumentalisieren, und gehen dabei – wie etwa Gerhard Amendt, Professor emeritus am Institut für Geschlechter und Generationenforschung an der Universität Bremen – sogar so weit, in den „eigennützigen und verqueren Wünschen von homosexuellen Frauen“ ein Mittel zu sehen, ihrer „offenkundigen Feindlichkeit gegen das Männliche einen handfesten Ausdruck zu verleihen“. Insbesondere lesbischen Frauen, die ein Kind aus einer heterosexuellen Partnerschaft haben, unterstellte etwa die FAZ noch vor zwei Jahren, mit der Stiefkindadoption eine „besonders raffinierte Form der Nachwuchssicherung“ zu betreiben. Denn nicht das Kindeswohl stehe im Vordergrund, wenn das leibliche Kind von der neuen Partnerin in der homosexuellen Lebensgemeinschaft adoptiert wird, sondern das Wohl des homosexuellen Stiefelternteils werde berücksichtigt.

Die KämpferInnen für eine homosexuelle Elternschaft schlagen dialektisch mit einem romantischen Argument zurück: Liebe. Homosexuelle Eltern hätten mindestens genauso viel Liebe zu verschenken, der Slogan dazu aus der Debatte um das Adoptionsrecht gilt mehr denn je: „Liebe verdient Respekt.“ Nicht wenige VertreterInnen von Homoverbänden gehen daher so weit, problematische Elternschaften und Familienstrukturen heterosexueller Paare als Beleg für die Überlegenheit homosexueller Eltern anzuführen: Diese entschieden sich schließlich sehr viel bewusster und überlegter für ein Kind und seien daher schlicht die besseren Mütter und Väter.

Außer Acht gelassen bleibt im Zuge dieser bewegungsromantischen Optimierungslogik, dass längst nicht erwiesen ist, ob Kinder in ihrer Entwicklung natürlicherweise sowohl eine Vaterfigur als auch eine Mutterfigur benötigen. Es könnte zumindest sein, wissenschaftlich sind diese Fragen noch nicht klar beantwortet. Bernd Eggen, Diplomsoziologe und Sozialpädagoge, seit 1990 an der Familienwissenschaftlichen Forschungsstelle des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg, verweist auf Studien aus den USA, aus Belgien und Großbritannien, die lediglich zu dem Schluss kommen, dass sich Kinder homosexueller Paare kaum von denen heterosexueller Eltern unterscheiden. Das angstbesetzte Vorurteil, dass Söhne und Töchter homosexueller Eltern mit großer Wahrscheinlichkeit auch homosexuell sozialisiert würden, ist demnach zumindest widerlegt. Ebenso wenig ist die pure Existenz beider Geschlechter in einer Lebensgemeinschaft mit Kindern ein Indiz für eine natürliche und somit bessere Entwicklung des Kindes.

Was Projektionen auf dieses Kind angeht, das nun unbedingt die Lebensbiografie der Paare zieren soll, stehen homosexuelle PartnerInnen ihren heterosexuellen Pendants jedoch kaum mehr nach. Je intensiver die demografischen und ökonomischen Argumente für Kinder auch den homosexuellen Kinderwunsch überlagern, desto romantizistischer wird er gelebt – von all den Elternpaaren, egal ob homo oder hetero, die ein Kind nun mehr als schickes Lifestyle-Accessoire im Bugaboo-Kinderwagen spazieren führen, um sich selbst in ihrer aufregenden neuen Bürgerlichkeit zu inszenieren.

Auch dies muss dann wohl als ein Part der kulturellen Teilhabe verstanden werden.

SUSANNE LANG, 29, ist taz-zwei-Redakteurin und bekennende Hetera