: „Hausbesuche sind das A und O“
Ein Gespräch mit der Hamburger Bischöfin Maria Jepsen über kritikwürdige Gottesdienste, die Zukunft der kleinen Landeskirchen und die Illusion großer Kircheneintrittswellen
Interview: FRIEDERIKE GRÄFF
taz: Frau Jepsen, das kürzlich vorgestellte Impulspapier „Kirche der Freiheit“ der Evangelischen Kirche fordert dazu auf, sich auf die Kernaufgaben der Kirche zu konzentrieren: Gottesdienst, Seelsorge und diakonische Arbeit. Was ist also verzichtbar?
Landesbischöfin Maria Jepsen: Aufgaben, die auch andere wahrnehmen können, etwa bestimmte Bildungsangebote wie Yoga-Unterricht. Aber ich würde mich immer hüten, wirklich zu verallgemeinern. Eine christliche Wandergruppe in der Kirchengemeinde kann völlig überflüssig sein, sie kann auch sehr wichtig sein, wenn dort Seelsorge geschieht. Das muss vor Ort gesehen werden.
Verzichten möchte man dem Impulspapier zufolge bis 2030 auf rund ein Drittel der Landeskirchen. Bedeutet das, dass die kleineren Landeskirchen im Norden wie Bremen und Oldenburg keine Zukunft haben?
Ich bin da zurückhaltend. Aber ich halte sehr viel davon, dass Landeskirchen in Kooperationsverträge einsteigen. Dass man sich die Kompetenzen, die man braucht, „einkauft“, zum Beispiel bei der Zusammenlegung von Predigerseminaren, bei der Frauenarbeit. Dabei lernt man sich kennen und kann überlegen: Wollen wir zu einer Landeskirche verschmelzen oder würden wir dabei unsere Identität aufgeben? Es kann nicht sein, dass die Haie die kleinen Fische schlucken.
Auf der Ebene der EKD sieht man die Vielfalt in den einzelnen Landeskirchen und Gemeinden nicht nur positiv – und fordert mehr Qualitätsstandards.
Die Unterschiedlichkeit muss natürlich nicht mit Qualitätsverlust verbunden sein. Aber was wir als Evangelische einüben müssen, ist, einen gewissen Mainstream nach außen zu vermitteln. Ich bin als Bischöfin in vielen Gottesdiensten: Da ist es manchmal schwierig, innerlich mitfeiern zu können, weil dort liturgisch so viel umgestellt wurde. Da muss es eine Verabredung geben, was die Kerninhalte sind, welche Standards wir für gute Predigten brauchen. Wir müssen sehr viel mehr Mut haben, eigene Schwächen anzuerkennen.
Woher kommt denn diese Zurückhaltung, die im Papier als „verhängnisvolle Unberührtheit der gottesdienstlichen Arbeit vieler Pfarrerinnen und Pfarrer“ auftaucht?
Das erlebe ich seit dreißig Jahren. Wenn man zum Beispiel bei Festtagen als Erleichterung einen Kanzeltausch vorschlägt, ist das ganz schwer durchzusetzen. Man hat Angst, jemand anderen auf die Kanzel zu lassen, weil er oder sie besser sein könnte. Das ist unter Amtsgeschwistern zu wenig eingeübt. Und die Gemeinden müssen es noch stärker lernen, in Glaubensfragen mitzureden. Dann ist da noch die Relevanz-Krise des Christentums, was bisweilen dazu führt, die eigenen Zweifel in eine dumme Selbstsicherheit einzuigeln.
Wobei andere Stimmen ja gerade von der Gefahr der Selbstsäkularisierung der evangelischen Kirche sprechen, also einer Verunsicherung, die ganz auf die andere Seite hin ausschlägt.
Ich beobachte immer wieder, wie wir in der Kirche unsere private Frömmigkeit verstecken und es zu wenig schaffen, in aller Klarheit Glaubensfragen zur Sprache zu bringen. Die Auseinandersetzung mit Glaubensfragen – ob vor Ort im eigenen kirchlichen Bereich, mit anderen Mitarbeitern oder im säkularen Bereich – wird gemieden, weil man Angst hat vor einem mitleidigen Lächeln: guck‘, die ewig gestrig Frömmelnden oder die Evangelikalen aus den USA.
Ein Mittel bei der so genannten Qualitätsoffensive soll der Ausbau der Profilgemeinden mit einem besonderen geistlichen, sozialen oder kulturellen Profil gegenüber den Gemeindekirchen sein. Ist das nicht ein Schritt weg vom, wenn man so will, Kerngeschäft vor Ort?
Die City-Kirchen sind vielfach auch so etwas wie Eventkirchen: Sie bieten Suchenden und Touristen niedrigschwellige Angebote und sind schon deshalb unverzichtbar. Dass diese Art Kirchen mittelfristig 25 Prozent ausmachen sollen, halte ich allerdings für viel zu hoch angesetzt. Ich halte sehr viel davon, die wirklichen Ortsgemeinden zu stärken. Hier in Hamburg sagen wir den Gemeinden seit zehn Jahren: Sucht heraus, was die besonderen Herausforderungen speziell bei euch sind. Natürlich gibt es einen Pflichtenkanon, aber dazu kommt bei jeder Gemeinde ein Schwerpunkt – dafür muss aber nicht jede Gemeinde alles anbieten. Was mich zudem an den Ortsgemeinden fasziniert, ist, dass sie vielfach sowohl generations- als auch milieuübergreifend arbeiten.
Dem gegenüber spricht das Impulspapier in erstaunlicher Deutlichkeit von einer „vereinsmäßigen Ausrichtung mit deutlicher Milieuverengung“ und fordert eine weitere Öffnung.
Es stimmt, dass wir in manchen Gemeinden eine Milieuverengung haben. Ich merke aber auch bei bestimmten Gemeinden, die sich Aufgaben gestellt haben, zum Beispiel Obdachlosenarbeit, dass dort der Gottesdienstbesuch, was ja nicht ganz unwichtig ist, gestiegen ist, dass auch die Intellektuellen und Alt-68er kommen.
Was Sie beschreiben, klingt vertraut: Die Gutwilligen aus dem protestantischen Bildungsbürgertum kümmern sich um die sozialen Außenseiter. Aber was ist mit all denen, die dazwischen angesiedelt sind?
Die Illusion, dass wir in Zukunft große Kircheneintrittswellen haben werden, die habe ich nicht. Aber was ich mir wünsche, ist, dass die Kirche aus der Anonymität heraustritt. Dass die Kirche etwa beim Stadtteilfest draußen einen Gottesdienst feiert. Und ganz altmodisch: Hausbesuche sind das A und O, ob in der Wohnung oder im Sportverein. Die Leute müssen das Gefühl haben: Da ist Kirche vorhanden, und wir gehören dazu.
Da verlangen Sie einiges von Ihren Pfarrerinnen und Pfarrern. Sie selbst haben ja gerade von der Scheu vieler Mitarbeiter gesprochen, nach außen zu gehen.
Das darf eben nicht sein. Ich kenne das aus eigener Erfahrung: Bei Hausbesuchen habe ich eigentlich immer gute Erfahrungen gemacht, aber beim Gang ins Männerzimmer im Krankenhaus, wenn man dort niemanden kennt, da weiß ich, wie schwierig das sein kann. Aber letztlich warten die Leute noch immer darauf, dass Kirche sich meldet. Wir haben auch eine Bringpflicht. Und wenn mir junge Leute sagen, „Ich mache zwei, drei Hausbesuche im Monat“, dann sage ich, dass es mindestens fünf bis zehn pro Woche sein müssen.
Was immer wieder als Aushängeschild gerade auch der nordelbischen Kirche genannt wird, ist die diakonische Arbeit. Doch die erscheint einigen als kaum unterscheidbar von den Angeboten anderer Träger.
Diese Erfahrung gibt es sicherlich. Es ist auch die Aufgabe der Kirche, die diakonischen Mitarbeiter für Glaubensfragen zu gewinnen. Denn wir haben in den 70er, 80er Jahren manche übernommen, die wohl Kirchenmitglied waren, ihr innerlich aber nicht sehr nahe standen. Einerseits erinnere ich dabei an das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter: Da ist nicht von Gottesdienst oder Gebet die Rede, sondern nur vom Tun allein. Andererseits gilt: Die Mitarbeiter der Diakonie sollten sich nicht der Kirche schämen.