Die Bourgeoisie lernt nie

Der französische Regisseur Dominique Moll versucht sich mit „Lemming“ an der Entlarvung bürgerlicher Verhältnisse

Spott über die Bourgeoisie, die ja selbst eine französische Erfindung ist, hat eine lange Tradition im französischen Kino. Es musste aber erst ein Außenseiter wie Michael Haneke kommen, der die Befindlichkeiten der sozial begünstigten Klasse mit brutaler Scharfsicht seziert. Dominik Molls zweiter Film „Lemming“ setzt an derselben gesellschaftlichen Sollbruchstelle an wie Hanekes „Caché“, nur zieht Moll wie bereits in seinem Debüt „Harry meint es gut mit Dir“ die Farce der kühlen Observation vor. Schon der Job von Alain Getty (Laurent Lucas) führt beispielhaft die kleine, bornierte, sicherheitsfixierte Welt vor, in der „Lemming“ angesiedelt ist: Alain entwickelt für die Firma eines amerikanischen Entrepreneurs Heimüberwachungssysteme. Seine neue Erfindung ist eine fliegende Miniaturkamera, die bei der Erkennung von Wasserrohrbrüchen eingesetzt werden kann. Der High-Tech-Gimmick ist allerdings vielseitig verwendbar, und so zeigt Moll gegen Ende sehr pointiert, dass die Imagination des französischen Bürgertums weit reicht, wenn es darum geht, sich selbst zu entblöden.

Das Ehepaar Getty befindet sich in einer Phase des Umbruchs. Alain und Bénédicte, gespielt von Charlotte Gainsbourg, haben gerade erst ihr neues Eigenheim bezogen. Das Haus fühlt sich noch nicht richtig vertraut an, da geschehen bereits die ersten Zwischenfälle. Der Küchenabfluss ist aus unerklärlichen Gründen verstopft, und das Abendessen mit dem neuen Chef endet dank dessen schlecht gelaunter Gattin (Charlotte Rampling in einer äußerst undankbaren Rolle) in einem Desaster. Noch in derselben Nacht fischt Alain aus dem Abflussrohr einen toten Lemming. Nur, so tot ist der gar nicht, wie Bénédicte am nächsten Morgen feststellt. Wie er in das Rohr gelangt ist, bleibt allerdings ein Rätsel. Ein erneuter Besuch der Frau von Alains Boss lässt die heile Welt der Gettys schließlich kollabieren.

In der ersten halben Stunde entwickelt Moll noch virtuos ein Gefühl der Entfremdung. Beiläufige Merkwürdigkeiten und genau beobachtete Manierismen erzeugen eine stetig wachsende Spannung zwischen den Eheleuten, doch mangelt es Moll entschieden an Timing. Nach seinem ersten Höhepunkt findet „Lemming“ nicht mehr zu der Präzision seiner Eröffnung zurück. Stattdessen verliert er sich in einem diffusen Gespinst aus Realität und Traumsequenzen, das immer bizarrere Ausmaße annimmt. Es gelingt Moll nicht, die Illusion von Normalität aufrechtzuerhalten. Am Ende wird ihm das Problem, das Haneke mit „Caché“ geschickt umging, zum Verhängnis: „Lemming“ verschreibt sich den Konventionen des Mystery-Genres, ohne ihm etwas Substanzielles abzugewinnen. Molls Film findet erst ganz am Schluss den Weg zurück in die antiseptische Vorstadtwelt der Gettys, doch bezeichnenderweise scheint hier alles beim Alten – äußerlich wie innerlich. Die Bourgeoisie hat wieder nichts über sich gelernt.

ANDREAS BUSCHE

„Lemming“. Regie: Dominique Moll. Mit Charlotte Rampling, Carlotte Gainsbourg u. a. F 2005, 129 Min.