piwik no script img

Archiv-Artikel

Vor dem Rave ist nach dem Rave

Die Love Parade findet nach zwei Jahren Pause wieder in Berlin statt – zum Glück ohne ihre alten Veranstalter. Jetzt darf es endlich ums Eigentliche gehen: den Chill – und nicht die Kritik an den Verhältnissen

VON JAN FEDDERSEN

Sind doch alles nur Nachhutgefechte, der Kampf ist längst gewonnen. So sieht es also Dr. Motte. Er, der eigentlich Matthias Roeingh heißt, würde sich die Parade weder im Fernsehen noch live an Ort und Stelle angucken. Muss der Erfinder der Love Parade auch nicht, das Ereignis, neudeutsch: das Event, kommt locker ohne jene aus, die aus ihrem privaten Musikgeschmack Ende der 80er-Jahre ein Partylabel machten. An diesem Wochenende findet sie zum ersten Mal nach zweijähriger Pause wieder statt – mit neuen Veranstaltern und ohne den alten moralischen Überschuss.

Diesmal ist die Love Parade nicht mehr als politische Manifestation akzeptiert, Politiker gehen nicht mehr vor ihr in die Knie und fordern Umwelt- wie sittliche Korrektheitsauflagen ein (Urin!, Drogen!, Nacktheit!, Enthemmung!). Heute haben nur noch all jene ein Auge auf sie, die alle Ereignisse durch ein Stethoskop betrachten, ob es nämlich dazu beiträgt, die Besucherströme in ihren Verantwortungsbereich, also Berlin, zu mehren: Fußball-WM, CSD, Fashion Week, Gynäkologenkongress, Folsom Street Festival oder die Kongregration deutschsprachiger Schrebergärtner – alles einerlei, so auch die Love Parade und jene halbe Million Männer und Frauen, die eigens für sie ihre Provinzen für einen Wochenendtrip verlassen.

Alles ist Party

Das nehmen die neuen Veranstalter, hart aber herzlich, gern hin – ein Mann, der mit Fitnessstudios zu Geld kam, sich für elektronische Musik allenfalls beiläufig interessierte, aber die Love Parade als solche immer für ein klasse Event hielt: als Ausweis jugendlicher Feiersinnigkeit. Man setzt auf Verfeinerung und Vergröberung zugleich. Einerseits auf das Bekenntnis zur körperlichen Intaktheit, andererseits mit dem Verzicht auf politisches Gebrummel, das ohnehin niemand ernst nahm. Kritik an den Verhältnissen, wie sie einst Dr. Motte schwurbelte? Pah. Ist alles Party, früher hieß das James Last, heute eben Love Parade. Man groovt auf einem Strom gleichartiger Tonspuren.

So ist die alte Love Parade schon lange tot, gescheitert am Wunsch, so etwas wie ein tönender Überbau zur Kritik an den Verhältnissen zu sein. Der Kritik an Langeweile des Alltags – der nur mit Höhepunkten selbst gewählter Art beigekommen werden kann. Und das heißt: Lang lebe die Liebesparade! Noch größer, noch lauter, noch ekstatischer. Noch mehr Party. Dass man dafür auf den angestammten Cat & Dance Walk zurückkehrt, ist kein Wunder. Zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule soll wieder, kein Promospruch scheint zu abgenutzt, die „größte Tanzfläche“ entstehen – dort also, wo vor Wochenfrist noch die Fanmeile zur Fußball-WM war und in einer Woche der CSD sein Ziel finden wird. Und Dr. Motte darf zu Protokoll geben, Deutschland sei Exportweltmeister in puncto elektronischer Musik. Na und?

Früher riefen noch besorgte Eltern bei der Berliner Polizei an, fragend, ob ihren Kindern auch wirklich nichts passiert sei bei dieser Love Parade. Und immer hieß es, nein, sei ganz harmlos, nur laut, sehr laut, ohrenstöpsellaut. Berlin müsse man sich außerdem sehr groß vorstellen, hieß es, ganz bürgernahe Kontaktbeamte, da falle ein musikalischer Umzug nicht weiter ins metropole Gewicht. Tanzen die einen dort, kriegen das andere, vier U-Bahn-Stationen weiter, schon nicht mehr mit. Der Rest war insofern nur Selbstbehauptung seitens der Eventveranstalter: Mit Musik moderneren Zuschnitts die Welt erhellen, sie beglücken, sie davon zu überzeugen, dass man ohne sie, diese Tonspuren, nicht könne. Als ob das nicht jede Unterhaltungsmusik je von sich angenommen hätte.

Das Spezifische an der Technoszene aber ist, dass sie konstitutiv einen Akt in sich integriert, der jeder Idee innewohnt, die auf Höhepunkte, auf Ekstase, auf Erfüllung, also auf Antilangeweile und Glück aus ist. Eine englische Vokabel umfasst ihn, eine, die inzwischen allenthalben eine deutsche geworden ist: chill. Es bedeutet „kühlen“, „abkühlen“, auch „sich beruhigen, sich entspannen, rumhängen, abhängen“. In die Szene eingeführt sei es laut Wikipedia 1990 durch die Gruppe „The KLF“ worden, auf ihrem Soundcollagealbum „Chill Out“ – präziser zu bestimmende Spuren über erste mündliche Überlieferungen, Nutzanwendungen im Alltag, sind nicht bekannt. Im taz-Archiv sind Bezüge seit Mitte der Neunzigerjahre notiert, nicht früher.

Kein anderer Stil, der auf Entgrenzung setzt, Strategien seiner Popularisierung entwickelt – was nie ohne Welterklärungsmuster nach dem Zuschnitt Dr. Mottes geht –, hat ernst genommen, was jeder Akt, ja, jeder Handlung, der oder die auf einen Höhepunkt sich zubewegen möchte, in sich trägt: Die Zeit nach der Klimax – das Abebben der Gefühle, das Wiedereinpegeln auf die Normalfrequenz und die Phase, in der so etwas wie Trauer aufkommt, weil das, was war, nicht mehr ist. Der Philosoph Martin Seel würde die Dramaturgie dieser Inszenierung als vielleicht anthropologische Konstante begreifen. „Paradoxien der Erfüllung“ hieß sein Aufsatz zur Frage, warum „das Glück nicht hält, was es verspricht“. Zur Antwort gab es in der Neuen Zürcher Zeitung, dass der Mensch stets etwas möchte, was ihn transzendiert, was ihn sehnen und hoffen und wünschen lässt. Aber die Erfüllung all seiner Fantasien vom Besten bedeutete, dass keine Steigerung mehr möglich ist. Er müsste, nicht mehr nur traurig, sondern depressiv aus dem Leben gehen: Weiter gesponnen hieße das, dass die Vorstellung vom perfekten Rave, Sex oder Leben überhaupt nur als Wunsch, nie als das wirkliche Leben Sinn macht.

Neugier, sacht und stetig, sei die Voraussetzung, so Seel, um sich zivilisiert davor zu bewahren, die eigene Leidenschaft am immer Besseren zu hüten, nicht daran zu verzweifeln, dass immer ein Gran dessen fehlt, was man erfieberte. Techno – als Kulturform – weiß das: Nach dem Rave ist vor dem Rave. In andere Sphären übertragen wird verständlich, warum die Fußball-WM glücklich für die Klinsmänner ausging – ein dritter Platz ist besser als der Größenwahn, der sich realisiert hätte, der Weltmeistertitel eben. Man guckt also wieder auf das Jahr 2010, auf Südafrika und wird den neuen Bundestrainer daran, ob unter seinem Dirigat das Publikum zu ähnlicher Partylaune findet.

Mit dem Sex verhält es sich ähnlich, ja, ebenso. Den absolut perfekten Fick gibt es nur in der einzelnen Fantasie (gern in masturbatorischen Tätigkeiten) – und weicht er dann realiter etwas vom Muster ab, chillt man eben aus, ahnend, mit einer Spur von schlechtem Gewissen auch, dass man den Appetit auf das Perfekte noch nicht eingebüßt hat.

Alles ist Höhepunkt

Musikstile wie Rock, wie überhaupt die Unterhaltungsästhetik linker Provenienz seit Mitte der Sechziger mochte dies nie zur Kenntnis nehmen: Dass nach einem Höhepunkt immer eine Zeit danach beginnt. Für immer demonstrieren. Für immer gegen das System. Für immer außerhalb der Konvention. Für immer antibürgerlich. Für immer anders als die anderen. Für immer ein Leben, das sich nicht erträgt, wenn es nicht über der Herzfrequenz pulsiert. Für immer jung also als Konstrukt des ewigen Orgasmus. Eine unerträgliche Vorstellung wäre dies tatsächlich. Dauerspasmen hält kein Körper aus – es wäre auch ein leeres Leben. Hat man alles, braucht man nichts mehr, in der Fantasie erst recht nicht – Leben als Pose, in Wirklichkeit desinteressiert und wie tot.

Insofern ist die Love Parade wie jede Party, auf die die Deutschen sich so gut verstehen, eine Zone des Bewusstseins, dass Ekstase ohne Enttäuschungsmoment keine sein kann. Die Angst spielt immer mit – der Gipfel, der doch fern bleibt. Ein Sisyphosprinzip, das in sich selig bleibt, weil die Vollendung der Verheißung keinen Spaß macht.

Die Love Parade wird eine Menge solcher Chill-Out-Zonen bereithalten. Man braucht sie. Nach der Party ist vor der Party. Die Partymeile als solche, für die WM, Raves oder CSD-Paraden wie am nächsten Wochenende, ist eine menschliche Erziehungszone und der Tiergarten ein Dschungel, in dem man sich von eigenen Lüsten erholen kann. Oder sie sich dort anstiften lässt. Vorher. Oder nachher. In Wellenbewegungen, das auf alle Fälle.