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Archiv-Artikel

Arsenikblüten und Selbstironie

PHANTOME Die in Hamburg lebende georgische Autorin Nino Haratischwili hat einen Roman über ein selbstmordauslösendes Buch geschrieben. Abgründe faszinieren sie – allerdings mit gebotener literarischer Distanz

Haratischwili & „Juja“

■ Die Autorin: 1983 in Tiflis, Georgien, geboren. Wuchs in Deutschland und Georgien auf. Mitglied der deutsch-georgischen Gruppe Fliedertheater. Studierte von 2000 bis 2003 Filmregie in Tiflis, danach Theaterregie in Hamburg (bis 2007). 2009 erschien „Georgia/Liv Stein“ im Verlag der Autoren, Frankfurt am Main.

■ Das Buch: Ihr neuer Roman „Juja“ ist dieses Frühjahr im Berliner Verbrecher Verlag erschienen. Er reflektiert und adaptiert die Geschichte von „Die Eiszeit“, einem Roman von Jeanne Saré, die in den Siebzigerjahren vor allem in feministischen Kreisen populär war und mehrere Leserinnen zum Suizid ermuntert haben soll.

VON NINA APIN

Wenn Nino Haratischwili einen dieser Sätze losgelassen hat, lehnt sie sich zurück und schickt einen langen Augenaufschlag hinterher: „Depression, Selbsthass und Tod sollten mehr Platz in unserer Gesellschaft bekommen.“ Sagt sie und ihre Mimik signalisiert: Doch, doch, ich meine es genau so. Das sanfte Braun ihrer kajalumrandeten Augen täuscht – die junge Autorin wirkt im Gespräch alles andere als mädchenhaft. Sie redet schnell, präzise und mit viel Ironie. Über Abgründe, gewalttätigen Sex. Und das Leid, das sie ihren Figuren aufbürdet. „Beschädigte Menschen sind interessanter – und lebensechter“, sagt sie. „Der Galascheiß, das ist nicht das Leben.“

Wieder so ein Satz. Eine Allerweltsweisheit, aber mit so viel Verve vorgetragen, dass man geneigt ist, sie der Wahlhamburgerin als große Erkenntnis abzunehmen. Haratischwili lehnt sich in ihrem Gartenstuhl zurück und blickt kampflustig in die Runde. In dem kleinen Cafégarten im Hamburger Schanzenviertel ist man hauptsächlich damit beschäftigt, trotz der Hitze gut auszusehen. Streiten will hier keiner. Haratischwili eigentlich auch nicht, sie sei eine verträgliche und humorvolle Person, betont sie. Aber in letzter Zeit werde sie dauernd gefragt, warum sie als junge Frau so harte Sachen schreibe.

Kein Authentizitätsgelaber

Die 27-Jährige dreht die Augen gen Himmel. Sie hat einen Roman geschrieben, der so ziemlich das Gegenteil vom „Galascheiß“ ist. „Juja“, erschienen im Berliner Verbrecher Verlag, orientiert sich an einer wahren Begebenheit aus den 1970er Jahren. In Paris tauchten damals Texte einer Danielle Sarréra auf, die sich 1949 mit 17 das Leben nahm. Ihre düster-mythologische Kurzprosa sorgte für großes Aufsehen, mehrere Leserinnen nahmen sich nach der Lektüre das Leben. Später tauchten Zweifel an der Existenz der Sarréra auf – bis heute ist die Autorschaft ungeklärt.

Bei Haratischwili heißt das Autorinnenphantom „Saré“, ihr Buch „Eiszeit“ verstrickt sich unheilvoll mit den Lebensläufen mehrerer ProtagonistInnen von Paris und Amsterdam bis nach Sydney. Haratischwili stieß zufällig im Internet auf den Stoff und verbrachte ganze Nächte damit, alles über den Sarréra-Fall herauszufinden. „Ich war fasziniert davon, dass Literatur heutzutage noch eine solch zerstörerische Kraft entfalten kann“, erinnert sie sich. Für die gebürtige Georgierin, die in Tiflis Film- und in Hamburg Theaterregie studiert hatte und sich zwischen Regie, Bühnen- und Prosaschriftstellerei bewegte, wurde die Arbeit an „Juja“ zur Identitätssuche. Und gleichzeitig zur Identitätsabwehr. „Ich wollte wissen, wo mein Platz in dieser Geschichte ist“, sagt sie. Die Person, die im Roman „Ich“ heißt, stellt sich provokativ so vor: „Ich schreibe, bin weiblich, jung und komme aus einem exotischen Land. (…) Ich bin im Begriff verlassen zu werden, lebe in einem fremden Land und habe eine Art Sinnkrise. Alle Klischees bediene ich fast schon bereitwillig.“

Die Figur sei, so Haratischwili, eine „kleine Rache“ an allen, die sie in Schubladen zwängen wollten: die empfindsame Jungautorin, die an der Welt leidet; die Kriegstraumatisierte, die der georgische Bürgerkrieg hart und wurzellos gemacht hat. „Ich hatte es soo schwer“, Haratischwili seufzt ironisch. Klar stecke viel Autobiografisches in ihrer Figur. „Aber ich bin Schriftstellerin genug, um die Kontrolle über meine Privatsachen zu behalten.“ Von „Authentizitätsgelaber“ halte sie wenig, es gebe schließlich einen Unterschied zwischen Prosa und Tagebüchern. Am Ende des Buchs wird das literarische „Ich“ den Sarréra-Fall und alle davon Betroffenen abschütteln, allein ins Flugzeug steigen und sagen: „Und auf einmal habe ich das Gefühl zu erwachen.“

Die Ichgeschichte weist einige Parallelen zu Haratischwilis Leben auf. Sie wird 1983 in Tiflis geboren und besucht ein deutschsprachiges Gymnasium. Mit zwölf geht sie mit ihrer Mutter nach Deutschland, kehrt nach zwei Jahren allein nach Tiflis zurück, um dort Abitur zu machen. Sie leitet eine zweisprachige Theatergruppe, studiert und geht 2003 nach Deutschland zurück. Seitdem lebt sie in Hamburg, das ihrem Bedürfnis nach Privatheit und Distanz entgegenkomme, wie sie sagt. Einmal im Jahr fährt sie nach Georgien, um ihren anderen Teil auszuleben, der sich nach Wärme, Zusammenhalt und ausufernden Familienfesten sehnt. „Juja“ schrieb sie in Hamburg, Tiflis und Moskau, wo sie ein Austauschsemester machte. „Am Ende wusste ich zwar auch nicht, wo ich hingehöre, aber immerhin, dass ich schreiben will“, sagt sie.

Haratischwili sagt, sie schreibe in der literarischen Form, die ihr Stoff verlange. Und in der Sprache des Landes, in dem sie aufgeführt oder verlegt wird. Das ist derzeit vor allem Deutschland: Für ihre Theaterstücke „Georgia“ und „Liv Stein“ erhielt Haratischwili 2008 den renommierten Preis des Heidelberger Stückemarkts und im März 2010 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Ab nächster Spielzeit ist sie Hausautorin am Göttinger Theater. Ihr Traum ist es, „Georgia“, das einzige ihrer Werke, das sich mit dem georgischen Krieg befasst, in Tiflis aufzuführen. „Aber nur, wenn ich dort unabhängig arbeiten darf.“

Die georgische Kulturszene werde von weißhaarigen Männern beherrscht, die der jungen Generation keine Chance gäben, beklagt sie. Eine Einladung des georgischen Kulturministeriums, zusammen mit anderen „erfolgreichen Emigranten“ Tiflis zu beehren, lehnte sie jüngst ab. „Pff, soll ich mich jetzt von denen loben lassen?“, Haratischwili bläst den Rauch ihrer Zigarette mit Nachdruck in Richtung Baumkronen. Dass die junge Autorin bedacht auf ihre Autonomie ist, hört man aus jedem ihrer Sätze. Ein wenig zu oft – als habe sie Angst, als Person hinter ihren Werken zu verschwinden. Auch „Juja“ kann man als Emanzipationsroman lesen. Aus dem Kanon der vielen Stimmen erheben sich am Ende zwei über die todbringende Kraft des Buchs.

Überzeugte Feministin

Die größte Stärke von „Juja“ ist die Vielschichtigkeit des Romans: Man kann ihn als literarische Rezeptionsgeschichte lesen oder als Kriminalfall

Die holländische Kunstdozentin Laura, die von einem Studenten zur Erforschung der rätselhaften „Eiszeit“-Autorenschaft genötigt wird, überwindet am Ende nicht nur den zerstörerischen Mythos des Buchs, sondern auch die eigene Depression. Auch Francesca, die traumatisierte Überlebende eines familiären Amoklaufs, geht gestärkt aus der Geschichte hervor. Andere, schwächere Stimmen gehen in der Todessinfonie der Saré und ihres besessenen Verlegers unter. Ein Albtraum mit Happy End?

Nino Haratischwili lacht. Sie glaube inzwischen nicht mehr daran, dass es je eine Danielle Sarréra gegeben habe. Oder eine Saré. „Aber das muss jeder für sich selbst entscheiden“, sagt sie und guckt gespielt melodramatisch unter ihren schwarzen Haaren hervor.

Für den Text sei es egal. Die größte Stärke von „Juja“ ist die Vielschichtigkeit des Romans. Man kann ihn als literarische Rezeptionsgeschichte lesen oder als Kriminalfall. Man kann im Welterlösungspathos der hungernden und einsamen Ausreißerin Saré schwelgen oder die Ironie hinter dieser Figur (Dichterklischee!) genießen. Die Figuren sind stimmige Charaktere, besonders die Frauen wirken, als würde man sie kennen. Das liegt vielleicht daran, dass Haratischwili überzeugte Feministin ist und sich gern mit Frauen beschäftigt, wie sie sagt.

Dass Frauen, auch im Theater, immer noch weniger verdienen als Männer, bringt sie genauso in Rage wie die archaischen Rollenvorstellungen in Osteuropa. In Georgien, empört sie sich, verschuldeten sich Frauen für Schönheitsoperationen und Gucci-Täschchen. Im Westen sei es auch nicht viel besser – dort hätten viele immer noch „den alten Frauentraum: Kind, Reihenhaus und Golden Retriever“. „Ein seltsames Verhalten nach so vielen Jahren Emanzipation“, sagt Haratischwili laut. Und blickt sich um, als wolle sie die Reihenhaustauglichkeit der Umsitzenden überprüfen.

In ihren Stücken nimmt sie schonungslos weibliche Eigenarten aufs Korn. Selbstironie und -kritik vermisst sie im feministischen Diskurs. „Die ewige Anklage der Männer und der Verhältnisse ist eben nur eine Seite der Wahrheit“, sagt sie. Selbst sei ihr die Sehnsucht nach Häuslichkeit fremd, sie gehe gern aus oder höre in ihrer Wohnung laut Musik. Am liebsten Jazz, gern auch Versionen von „Gloomy Sunday“. Der ungarische Komponist des Stücks, das als „Lied der Selbstmörder“ traurige Berühmtheit erlangte, nahm sich das Leben. „Faszinierend, oder?“ Nino Haratischwili drückt ihre Zigarette aus, als setzte sie einen Punkt. Sie freue sich jetzt auf die Lesungen, sagt sie und blickt wieder ein wenig streitlustig. Die Publikumsdiskussionen werden bestimmt lebhaft – solange ihr keiner zu sehr auf die Pelle rückt.