Am israelischen Nerv

Der Hamburger Kunstverein zeigt Videos der israelischen Künstlerin Yael Bartana, die in ihren Arbeiten einen kritischen Blick auf ihr Land wirft. Die taz bat den in Hamburg lehrenden Nahost-Experten Martin Beck um eine Führung durch die Ausstellung

Interview: Petra Schellen

taz: Das Eingangsvideo der Ausstellung, „Odds and Ends“, zeigt eine lärmende Menschenmenge, die sich um einen Warentisch balgt. Inwiefern spiegelt dies die israelische Gesellschaft?

Martin Beck: Diese Szene – wie fast alle Videos gestellt – spielt in einer jener Malls, die für Israel recht typisch sind. Es handelt sich um eine Art Ramsch-Verkauf, und man sieht deutlich, dass dies Menschen sind, die sich in der sozialen Hierarchie weit unten befinden – teils Palästinenser, teils orthodoxe Juden. Sie alle stürzen sich ziemlich aggressiv auf die Billigwaren – ein interessanter Kontrast zum Ort des Geschehens, der eleganten Einkaufs-Mall. Dieser Gegensatz ist letztlich ein Reflex darauf, dass die israelische Gesellschaft stark gespalten ist. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist sehr groß.

Und dann wäre da noch die Teilung in Israelis und Palästinenser…

Ja. Fast 20 Prozent der Staatsbürger Israels sind Palästinenser, die 1948/49, im ersten israelisch-arabischen Krieg, weder flohen noch vertrieben wurden. Wer damals blieb, bekam einen israelischen Pass. Diese Palästinenser sind Teil der israelischen Gesellschaft, bilden dort allerdings eher die untere soziale Schicht. Wie die meisten orthodoxen Juden auch.

Das Video „Profile“ zeigt Schieß-Übungen israelischer Soldatinnen. Langsam legen sie an, harren lange aus, als lauschten sie, um endlich den Schuss zu lösen. Ein ungewöhnlicher Zugang zum Thema.

Ja. Die kontemplative Haltung der Frau im Vordergrund steht in auffallendem Kontrast zum brutalen Geschäft des Schießens. Die Künstlerin problematisiert diese Schießübungen offensichtlich. Dieser Zugang bildet einen starken Widerspruch zur israelischen Realität, in der die Existenz von Waffen im Alltag völlig normal ist. Die Waffe steht in der israelischen Gesellschaft für Wehrhaftigkeit und ist eindeutig positiv besetzt. Auch deshalb, weil sie mit der Armee verbunden ist – der Institution, der mit Abstand am stärksten vertraut wird. Einfach, weil man nie wieder Opfer sein will.

Wobei das andauernde Vertrauen der israelischen Gesellschaft in ihre Armee doch überrascht. Der Nahost-Konflikt ist ja nicht gelöst.

Die israelische Perspektive ist anders: Wir Israelis sind deswegen hier, weil wir eine so starke Armee haben, lautet das Motto. Und von der Armee wird erwartet, dass sie schlagkräftig und modern ist. Sie ist integraler Teil der israelischen Gesellschaft.

Trotzdem gibt es auch in Israel Kriegsdienstverweigerer.

Ja, aber das ist sozial enorm geächtet – durch alle politischen Lager hindurch. Denn die Bereitschaft, zur Armee zu gehen, ist für alle säkularen Israeli selbstverständlich. Ausgenommen sind die Ultraorthodoxen, die aus religiösen Gründen verweigern, und die palästinensischen Israelis. Wer verweigert, stellt sich quasi außerhalb der israelisch-jüdischen Gesellschaft und gilt als jemand, der nichts für das Gemeinwohl tun will. Und wer in Israel Karriere machen will, etwa als Wasseringenieur oder im Hightech-Bereich – nach israelischem Verständnis alles sicherheitsrelevante Bereiche – muss bei der Armee gewesen sein. Der Wehrdienst ist sozusagen ein Initiationsritus, um Teil der israelisch-jüdischen Gesellschaft zu werden. Und auch, wer lediglich den Dienst in den besetzten Gebieten verweigert, wird von der Mehrheit der Bevölkerung nicht akzeptiert. Eine solche Haltung gilt als unpatriotisch.

Das Video „When Adar Enters“ zeigt eine Straßenszene mit Verkleideten: orthodoxe Juden mit Hut oder Kippa, Kinder in einer Art von Karnevalskostümen, Menschen in Phantasie-Uniformen. Welche Facette der israelischen Gesellschaft bildet diese Szenerie ab?

Gezeigt wird das Purim-Fest, ein Art Karneval. Bartanas Video spielt in einem vorwiegend von Ultraorthodoxen bewohnten Viertel in Jerusalem. Beeindruckend ist, dass der Blick der israelischen Künstlerin auf ihre Landsleute ein fremder ist. Sie schaut so auf Teile ihrer eigenen Gesellschaft, wie wir als Europäer es tun. Dabei hat man wirklich das Gefühl, durch eine fremde Welt laufen. Wobei die Irritation auch dadurch entsteht, dass der Europäer nicht beurteilen kann, was Verkleidung im Sinne des Purim ist und was orthodoxe Alltagskleidung. Manches wirkt skurril, gehört aber dort zum Alltag – etwa die Plastiktüten, die sich manche Männer über ihre großen schwarzen Hüte gestülpt haben. Sie dienen dem Regenschutz. Aus religiösen Gründen dürfen sie nicht ohne Kopfbedeckung unterwegs sein und ihren Hut daher nicht abnehmen.

Offenbart die Verwechselbarkeit von orthodoxer Kleidung und Purim-Kostüm nicht einen Hauch Ironie?

Mag sein. Wichtig ist aber vor allem, dass eine Künstlerin, die selbst aus dieser Gesellschaft stammt, solche Phänomene als fremd präsentiert.

Hat sich die Künstlerin mit solchen Videos in Israel nur Freunde gemacht?

Nein. Sie wurde unter anderem dafür kritisiert, dass sie dieses sehr interne, existenzielle Problem der israelischen Gesellschaft – die Kluft zwischen säkularen und ultraorthodoxen Israelis – dem Ausland als Kuriosum präsentiert. Denn diese Kluft spaltet die israelische Gesellschaft ganz massiv. Einerseits achtet man die Orthodoxen – schon deshalb, weil sie die Hauptopfer des Holocaust waren. Andererseits herrscht ein großes Unverständnis bezüglich der Lebensführung dieser Gruppe, in der Verhütung nicht erlaubt ist und die deshalb enorme Geburtenraten hat. Manche Jerusalemer Schulen werden von ultraorthodoxen Kindern stark dominiert. Viele säkulare Juden empfinden das als Angriff auf ihre Identität.

Ist das eine tatsächliche Bedrohung?

Derzeit nicht. An den Schaltstellen in Politik und Medien sitzen meist Säkulare. Andererseits gibt es starke regionale Unterschiede. Jerusalem etwa, das früher Symbol der säkularen Gesellschaft war, ist inzwischen stark von den Orthodoxen geprägt. Das hat in den Neunzigern zur Abwanderung der säkularen, liberalen Israelis geführt, die sich in Tel Aviv und Haifa angesiedelt haben. Jerusalem gilt als zunehmend provinziell.

Das letzte Video der Schau, „Trembling Time“, zeigt eine Gedenkminute auf einer Autobahn. Auf Sirenengeheul hin bleiben alle Autos stehen, die Insassen steigen aus, bleiben einen Moment lang stehen und fahren dann kollektiv weiter.

Hier handelt es sich um eine landesweite Gedenkminute für die gefallenen israelischen Soldaten des ersten israelisch-arabischen Krieges. In dieser Minute steht im Land alles still, nicht nur auf den Straßen. Etliche Autos sind aus diesem Anlass auch beflaggt.

Ein sehr patriotisches Ritual.

Ja, und für die palästinensischen Israelis – wie gesagt: 20 Prozent der Bevölkerung – extrem problematisch. Für sie ist das ein Tag der Trauer, aber niemand im Land kann sich dem Ritual entziehen. Sie können ja nicht einfach weiterfahren. Andererseits ist es den Palästinensern nicht erlaubt, einen Gedenktag in Erinnerung an ihre Vertreibung zu begehen.

Dann zeichnet die Künstlerin hier kein sehr freundliches Bild ihrer eigenen Gesellschaft.

Nein. Und das kann man vielleicht auch als Fazit aus dieser Ausstellung mitnehmen: dass hier eine Israelin Rituale, die für ihre eigene Gesellschaft Identität stiftend sind, mit Abstand präsentiert. Sie in Zeitlupe darstellt, verzerrt und als fremdartig darstellt. Dass sie so – etwa durch die Infragestellung eines nationalen Gedenktages – den Nerv der israelischen Gesellschaft trifft, versteht sich.