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Archiv-Artikel

die taz vor 16 jahren: ddr-führung entlässt alle professoren für marxismus-leninismus. das reicht nicht

Der Ministerratsbeschluß über die generelle Abberufung von Professoren für Marxismus-Leninismus ist umstritten. Die zielsichere Einseitigkeit wirft den Verdacht auf, daß hier schnell ein Sündenbock für weit über diesen Kreis hinausgehende Gewissenlosigkeit an den Universitäten gefunden werden soll.

Die Zeit ist günstig, rasch ein kollektives Berufsverbot auszusprechen gegen all jene, deren Berufsbezeichnung als Synonym gilt für die abzutragende Schuld der vergangenen Jahre. Doch hätte nur dieser kleine Kreis Kriechertum und Dummheit auf sich geladen, wäre wohl kaum das stalinistische System über so eine lange Zeit gekommen.

In den Papieren der ehemaligen SED-Kreisleitung der Karl -Marx-Universität zum Beispiel ist von „ideologischen Unruheherden“ an den naturwissenschaftlichen Sektionen kaum etwas zu lesen. Auch hier gab es wohl wie überall neben integren Wissenschaftlern solche, die für die Karriere Kompromisse gemacht haben oder gar nur durch diese hochgekommen sind. Mit anderen Worten: Nicht nur Gesellschaftswissenschaftler haben sich politisch belastet, und vor allem: nicht alle. Oder, wenn man es von außen betrachten will, dann haben sich alle, aber auch alle, die wissenschaftlich gearbeitet haben, ihrer Verantwortung zu stellen.

Die Forderung nach einheitlichen Kriterien für die gesamte Überprüfung der berufenen Professoren besteht somit zu Recht. Wird der Forderung nicht entsprochen, müssen sich die Verfasser des Abberufungsbeschlusses fragen lassen, inwiefern nicht politische Absichten hinter ihrem Tun lauern, die denen ihrer Vorgänger in nichts nachstehen. Mit dem Festmachen der absolut Schuldigen kann sich der Rest der Gesellschaft bequem zurücklehnen. Der notwendige Erkenntnisprozeß für jeden einzelnen ist freilich damit abgeschnitten.

Vera Linß, taz vom 17. 7. 1990. Die Autorin war Studentin der Journalistik an der Uni Leipzig und ist heute Medienjournalistin