: Im Rücken ein kalter, schwarzer Wind
PERSPEKTIVWECHSEL Jamaica Kincaid traut sich, Gefühle in Worte zu fassen, die andere sich nicht einmal zu empfinden wagen. Zwei ihrer herausragenden Romane über Herkunft und Zugehörigkeit sind neu übersetzt
CATARINA VON WEDEMEYER
Am Anfang ist Mrs Sweet einfach nur Mrs Sweet. Mrs Sweet liebt Blumen, die Antike und die eigenen Kinder, den jungen Hercules und die schöne Persephone – bei beiden scheinen die Adjektive zum Namen zu gehören. Ihr Mann hingegen liebt tote Bäume und Philosophen, die seine Frau „nicht versteht“. Darin steckt schon alles: seine Verachtung, ihr Minderwertigkeitskomplex, sämtliche Vorurteile gegenüber Frauen und Schwarzen, das Trauma des Sklavenhandels, das weiterhin bestehende Monopol der Weißen auf die sogenannte Hochkultur et cetera.
So wie Jamaica Kincaid die Ehe der Sweets in ihrem Roman „Damals, jetzt und überhaupt“ beschreibt, manifestiert sich darin Weltgeschichte. Tatsächlich geht es auch um die Wahrnehmung von Zeit. Irgendwann – damals, jetzt – entscheidet Mr Sweet, seine Frau zu verlassen, schließlich könne man eine Frau, die auf einem Bananendampfer aus der Karibik gekommen sei, nicht kennen und daher auch nicht lieben. Im Gegenzug beschreibt Mrs Sweet ihren Mann als „Nagetier aus der Zeit des Mesozoikums“.
Mr Sweet stocksauer
Die ganze Atmosphäre ist voller perfider gegenseitiger Beschimpfungen, die sehr komisch sein können und gleichzeitig von tiefster Verletzung zeugen. Ab und zu mischt sich der Alltag der Sweets mit griechischer Mythologie. Einmal tötet der junge Hercules eine neunköpfige Schlange und schleudert sie auf den frisch geputzten Küchenboden. Also wischt Mrs Sweet den Boden halt noch einmal, steckt die neun Schlangenköpfe in eine Tüte und bittet Mr Sweet, den Müll rauszutragen. Mr Sweet ist natürlich stocksauer.
Man darf also nicht allzu leichtfertig auf das Leben der Autorin schließen, auch wenn es viele Parallelen gibt. Die Protagonistin Mrs Sweet hat am gleichen Tag Geburtstag wie ihre Erfinderin. Jamaica Kincaid ist 1949 unter dem Namen Elaine Potter Richardson auf Antigua geboren. Als Kind stahl sie Bücher und Geld, um Bücher zu kaufen. Mit 16 ging sie als Au-pair nach New York, wo sie bald ihren Namen änderte und zu schreiben begann. Zwanzig Jahre lang arbeitete sie für den New Yorker, inzwischen lehrt sie Literatur am Claremont McKenna College und als Gastprofessorin in Harvard. Sie hat viele Preise gewonnen. Kincaid war mit dem (weißen) Komponisten Allen Shawn verheiratet, sie haben einen Sohn und eine Tochter.
Noch metapoetischer wird es, wenn die Protagonistin Mrs Sweet sich zum Schreiben zurückzieht oder aus ihrem Buch mit dem Titel „Die Autobiografie meiner Mutter“ vorliest. Genau so heißt auch ein Roman der Autorin Kincaid, der 1995 zum ersten Mal erschien und nun erneut vom Unionsverlag herausgegeben wurde.
Der Titel klingt paradox, könnte aber passender nicht sein: Es ist ein Text für genau jene, die ihre Geschichte nicht selbst schreiben können. Kincaid findet in diesem Buch eine Sprache nicht nur für die Besiegten der Kolonialgeschichte und für die verdrängten Minderheiten der karibischen Inseln, sondern auch für unterdrückte Individuen: „Meine Mutter starb in dem Augenblick, als ich geboren wurde, und so stand mein ganzes Leben lang nichts zwischen mir und der Ewigkeit; in meinem Rücken war immer ein kalter, schwarzer Wind.“ Die Autorin schreibt über Herkunft und Zugehörigkeit, wo es am allerschmerzhaftesten ist, und schafft es, diese Dinge so anzusprechen, dass man unbedingt weiterlesen muss.
Da die mutterlose Erzählerin beschließt, selbst niemals Mutter zu werden, handelt dieses Buch eigentlich gar nicht von Müttern. Es ist zunächst vor allem die Geschichte der Ich-Erzählerin Xuela Claudette Richardson. Die begegnet in ihrem Leben so vielen verschiedenen atemberaubenden Frauenfiguren, dass es am Ende doch eine Geschichte von Mutterschaft ist. Es gibt eine Ziehmutter, die sich kaum wäscht, aber gerne Kinder schlägt; eine Stiefmutter, die versucht, das Mädchen mit einer verzauberten Kette zu töten; und eine unfruchtbare Frau, die sich wünscht, dass Xuela an ihrer Stelle schwanger wird. Das Buch liest sich wie ein Protokoll, viele Sätze beginnen mit „Und“, man hört die Pausen in der Sprecherstimme. Indem die Erzählerin einzelne Sätze wiederholt, klingt die Sprache oft wie ein Gebet oder eine Beschwörung.
Das Gleiche gilt für „Damals, jetzt und überhaupt“, ein fließender Perspektivwechsel erschüttert jedoch simple Zuordnungen. So bleibt es häufig unklar, ob es der Ehemann ist, der die Oberarme von Mrs Sweet mit einem „Tenderloinsteak vom Schwein im Sonderangebot bei Price Chopper“ vergleicht, oder Mrs Sweet, welche die Beleidigung schon mal imaginativ vorwegnimmt, um sich vor verächtlichen Blicken zu schützen.
Schreiben als Rache?
Bei so viel Schonungslosigkeit stellt sich die Frage, ob das Buch eine Rache ist. Am Exmann, an der kolonialistischen Vergangenheit, am Alter im Allgemeinen. Aber das wäre zu einfach. Kincaid ist es gewohnt, dass Kritiker ihre Literatur als „wütend“ bezeichnen: „Ich wäre verloren ohne das Gefühl von Antagonismus, das die Menschen mir gegenüber haben. Ich schreibe aus Trotz.“ Tatsächlich ist es eher Mut als Wut. Kincaid traut sich, Gefühle in Worte zu fassen, die andere sich nicht einmal zu empfinden wagen. Das macht ihre Literatur unheimlich stark, intensiv und berauschend.
Die Sweets leben übrigens im sogenannten Shirley-Jackson-Haus. Die Namensgeberin war eine Autorin von Gruselgeschichten, hatte aber auch einen Sinn für das Heitere am Häuslichen – der Name gilt also auch als Motto für das Buch von Kincaid. Auch sie verbindet die Komik des familiären Zusammenlebens mit existenziellen Traumata, das Witzige mit dem Grausamen. Jede Familie ist unglücklich auf ihre eigene Weise, aber die Erfahrungen von Mrs Sweet gelten zugleich universell. Sie ist die Hausfrau und Mutter schlechthin. Die Hausfrau, die keiner sein will, die Mutter, für die man sich schämt, und die Frau, die wir alle lieben.
■ Jamaica Kincaid: „Damals, jetzt und überhaupt“. Dt. v. Brigitte Heinrich, 216 Seiten, 19,95 Euro
■ „Die Autobiografie meiner Mutter“. Dt. v. Christel Dormagen, 224 Seiten, 10,95 Euro. Beide im Unionsverlag Zürich