: „Heute denken – morgen fertig!“
Naivling oder Stratege? Literatur- und Kulturwissenschaftler versuchten am Wochenende, den Dilettanten diskurstechnisch in den Griff zu bekommen. Dabei gehört es zu seinem Wesen, dass er sich als Außenseiter den akademischen Maßstäben entzieht
VON WOLFGANG MÜLLER
Gelegentlich vergewissert sich die Wissenschaft ihrer Existenz und lädt zur Diskussion über den Dilettanten ein. So geschehen am Wochenende, wo das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung den Wandel des Dilettantenbildes, seine Geschichte und die aktuelle Bedeutung des Dilettanten untersuchte. Überschrieben war der dreitägige Workshop mit einem abgewandelten Motto von Max Weber: Statt Wissenschaft also „Dilettantismus als Beruf“.
Dreizehn Experten nahmen den Dilettanten, den Nicht-Experten oder so genannten Grenzgänger kühl, aber durchaus nicht kaltherzig ins Visier. Die Begrüßung wurde von Organisatorin Safia Azzouni vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte sehr angenehm, um nicht zu sagen professionell eingeleitet und von Organisator Uwe Wirth vom Zentrum für Literatur- und Kulturforschung anschließend mit den Worten „perfekt eingeleitet“ kommentiert – ein kleiner Scherz, der die Problematik des Sujets beschreibt.
Wirth richtete in seinen „Dilettantischen Konjekturen“ den Fokus unter anderem auf gewisse Eigenheiten und Zuschreibungen des Dilettanten, die ihn für den Experten zur bedeutenden Figur, am Ende gar zu seinesgleichen machen können. Doch wie den Gegenstand greifen, der sich doch gerade aufgrund seiner Dummheit, Genialität, Verrücktheit, Ignoranz und was es sonst noch alles gibt, dieser Umarmung entzieht oder auch entziehen möchte? Es ist eine Kunst, gleichzeitig die Absurdität des Unterfangens im Auge zu haben und sie in einen akademischen Kontext zu integrieren – ohne dabei aber die Signifikanten des Objekts der Begierde zum völligen Verlöschen zu bringen.
Während zu meiner rechten die Kuratorin Christine Heidemann saß, die gerade ihre Doktorarbeit zum Thema „Dilettantismus als Methode“ vollendet hat, fiel vorne Martin Kippenbergers Satz: „Heute denken – morgen fertig!“ Kippenberger, dessen „Preisbilder“ – 5. Preis, 11. Preis und so weiter – das Faltblatt der Veranstaltung schmücken, eignet sich mit seiner Attitüde wunderbar zur Illustration des Themas. „Ich kann mir nicht jeden Tag ein Ohr abschneiden!“, sagte einst das wohlhabende Enfant terrible des etablierten Kunstbetriebs und riss zur Freude aller eine vollbeladene Tischdecke in einer exklusiven Künstlerkneipe herunter. Ich persönlich hätte es natürlich genialer gefunden, Kippenberger hätte gesagt, dass er sich nicht jeden Tag ein Ohrläppchen abschneiden könne. Es war ja schließlich der Kunstbetrieb, der aus dem Ohrläppchen in hundert Jahren ein ganzes Ohr schuf.
Ausgerechnet als Uwe Wirth anhebt, am Dilettanten ein „Plädoyer für das Leidenschaftliche“ zu beschreiben, mit dem dieser Einfälle hervorbringt, und das Bild des unvorhergesehenen Blitzschlags in den Raum wirft, stößt meine Nachbarin zur Linken versehentlich mit dem Hinterkopf an den Lichtschalter. Der Raum erstrahlt in grellem Neonlicht. „Jetzt geht der Blitz an!“, murmelt sie und beendet den Spuk dezent mit dem Zeigefinger. Später taucht noch ein Lob für den Mut des Dilettanten auf, auch seine Ignoranz altehrwürdiger Tradition gegenüber.
Tags darauf beschreibt die Kunstgeschichtlerin Barbara Wittmann die Rolle des Dilettanten in der modernen Kunst und präsentiert mit dem Schweizer Polizeibeamten Arnold Odermatt ein aktuelles Beispiel der Gnade der späten Entdeckung. Erst mit siebzig Jahren hat – mit Hilfe seines Sohnes Urs – sein privates Fotoarchiv mit den wunderbarsten Autounfällen den Weg in die moderne Kunst genommen.
Dem gegenüber stellt die Referentin den Amateurfotografen Mister Pecker aus John Waters’ gleichnamigem Spielfilm, der unversehens vom Kunstmarkt zum Star aufgebaut wird. Meine alte Freundin Nan Goldin fiel mir ein, deren jahrelange persönliche, intime und doch immer sehr beiläufig ausgeführte Beobachtungen mit der Kamera in Berlin und New York plötzlich als Großfotos in den großen Museen der Welt zu sehen waren. Sie inszenierte nicht, sondern knipste buchstäblich ihre Freunde, mal dort und mal hier. Zunächst liefen ihre Bilder als Diashows mit der Musik von Velvet Underground in kleinen Kinos. Jahre später erreichte mich der atemlose Anruf eines Bekannten aus Basel: „Wolfgang! Dein Porträt hängt im Kunstmuseum!“ Ob ein Kritiker, Galerist oder Sammler sich aber je getraut hätte, Nan Goldin als Dilettantin zu bezeichnen, selbstverständlich nicht abfällig, sondern positiv, als eine geniale, talentierte oder begnadete …?
Barbara Wittmann verwendete übrigens den Begriff Adaption, wenn das Macht- und Deutungszentrum sein Blut mit den Zeichnungen der Geisteskranken erfrischt, mit unmöglicher Hobbymalerei oder alten afrikanischen Skulpturen. Die anschließende Frage eines Workshopteilnehmers nach den Eigenschaften des „Genialen Dilletantismus“ (sic!) aus Berlin beantwortete sie mit dem bewussten „Verlernen“ des Musikalischen – was mich, sozusagen als Betroffenen – etwas verwunderte. Die damaligen Akteure konnten ja tatsächlich weder singen noch Geige spielen, Schlagzeug oder Gitarre – eindrücklich zu hören auf der erst kürzlich erschienenen, sehr professionell aufgemachten 2-er LP-/CD- und DVD-Jubiläums-Box „25 Jahre Geniale Dilletanten“. Sie hatten zudem Rechtschreibschwächen, was Uwe Wirth anschließend bestätigte: Das gleichnamige Buch wurde aufgrund des Fehlers im Titel – „Dilletant“ statt „Dilettant“ – von den Büchersuchmaschinen während der Workshop-Vorbereitung nicht aufgefunden.
Am Sonntag schließlich beendete Eckhard Schumacher die Reihe mit einem Ausflug in die Welt des existenziellen Besserwissens. Ich konnte mir schon denken, was er zu berichten hatte, habe es mir aber trotzdem angehört. Man weiß ja nie.
Wolfgang Müller war Mitbegründer von Die Tödliche Doris und Herausgeber von „Geniale Dilletanten“, Merve 1982