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Archiv-Artikel

Zwischen Hysterie und Selbstbeobachtung

ELSIE DE BRAUW Kontrolliert – und irre aufregend: Die niederländische Schauspielerin ist heute bei den Salzburger Festspielen dabei

In Fabrikhallen und auf Schrottplätzen ist das antipathetische, antimimetische Theater entstanden, das Elsie de Brauw und Johan Simons auch in München wieder in den Stadtraum bringen wollen

VON SABINE LEUCHT

Es ist einer der wankelmütigen Sommertage des Jahres 2010, an dem Elsie de Brauw in der Kantine der Münchner Kammerspiele sitzt. Vor der offenen Tür droht der Regen und schickt ab und zu einen Windstoß voraus. Bald zieht sich die Schauspielerin und Frau des künftigen Kammerspiel-Intendanten Johan Simons ihren blauen Strick-Troyer übers T-Shirt, bald zieht sie ihn wieder aus. Und eigentlich muss man Elsie de Brauw nur dabei zusehen, um zu verstehen, wie sie mit ihren Rollen umgeht.

In Simons’ Visconti-Variation „Der Fall der Götter“ wirft sie ein weißes über ihr buntes Kleid, um die machtlüsterne Mutter des Industriellenclans von Essenbeck in die rebellische Nichte der Familie zu verwandeln. In Lot Vekemans’ Monolog „Schwester von“ schlüpft sie in die Haut von Ödipus’ Tochter Ismene, die tausende von Jahren nach dem Heldentod ihrer Schwester Antigone aus deren Schatten tritt. 75 spannende Minuten auf einem Fleck stehend, offenbart de Brauw die Verletzlichkeit ihrer Figur: Sie zeigt sie als Abhängige von einem Publikum, das über Ismenes mediokre Geschichte richten soll, sie outet sie als große (Selbst-)Zweiflerin, die nach einer schlaflosen Ewigkeit endlich beschließt, für ihre kleinen Ideale und das allzu menschliche Lebenwollen einzustehen.

Hier könnte dann gut auch Elsie de Brauw ganz privat auf der Bühne stehen, die sich seinerzeit gegenüber der Süddeutschen Zeitung empörte: „Wieso sind immer die Menschen, die sofort wissen, was sie zu tun haben, die Helden?“ Und warum – fragte sie sinngemäß weiter –, warum nie die, deren Denken Nuancen kennt? Kurz: die Klugen?

Elsie de Brauw, 1960 in Den Haag geboren, wurde für ihre Leistungen im Theater wie im Film vielfach ausgezeichnet. Dass sie in den Niederlanden und Belgien ein Star sei, verneint sie dennoch. Mit einem gut hörbaren Ausrufezeichen hinter dem Satz: „Dort gibt es keine Stars!“ Das holländisch akzentuierte Deutsch, das selbst Rudi Carrell zum Sympathieträger machte, kann recht spitz klingen, wenn es sich pragmatisch kurz fasst. So wirkt die 49-Jährige trotz ihrer zarten, fast mädchenhaften Erscheinung enorm energisch. Wie eine, die keinen Posten je vor der Zeit verloren gibt.

Ganz wie Myrtle Gordon in „Opening Night“ (nach John Cassavetes, Regie: Ivo van Hove), jene Rolle, die Elsie de Brauw die Ernennung zur besten Schauspielerin Hollands einbrachte. Es geht in dieser komplexen Stück-im-Stück-Geschichte um eine Schauspielerin, die nicht damit klarkommt, eine alternde, verlassene Frau spielen zu müssen. So jedenfalls lautet die offizielle Interpretation. De Brauw allerdings sieht auch hier nuancierter auf ihre Figur: „Myrtle hat ja Recht, sich zu wehren. Das Opferlamm, das sie spielen soll, ist vollkommen humor- und intelligenzfrei.“

Als erfahrener Schauspielerin sollte Myrtle selbst ein Urteil zustehen, so de Brauw. Doch stattdessen begegneten ihr die Kollegen mit Klischees von weiblicher Eitelkeit, Kontrollverlust und Hysterie. De Brauw selbst kann man mit keinem dieser Klischees in Verbindung bringen. Denn noch die emotional aufgewühltesten Frauenfiguren erschafft sie mit erstaunlich ökonomischen Mitteln: „Wenn etwa bei Myrtle die Hysterie kommt“, sagt sie, „beobachte ich mich und denke: Was mache ich denn da?“

Im Spannungsfeld zwischen Hysterie und Selbstbeobachtung ist auch Irene Wagner gefangen, die Anwaltsgattin in Stefan Zweigs Novelle „Angst“ von 1920, als die Elsie de Brauw heute Abend bei den Salzburger Festspielen auf die Bühne kommt. In deren „breitbürgerliche, windstille Existenz“, so der Text in der Bearbeitung von Koen Tachelet, fährt der Sturm des entdeckten Ehebruchs. Es dürfte Elsie de Brauw gut passen, dass sie sich für diese Rolle den Mantel der Identifikation allenfalls locker umhängen muss. Denn die Irene wird mehr erzählt als gespielt, mal in der ersten, oft aber auch in der dritten Person.

Mut für München

Als Elsie de Brauw vor einigen Wochen meinte, die Proben unter Regisseur Jossi Wieler fühlten sich sehr gut an, schien sie sich allerdings auch noch selbst Mut zusprechen zu müssen für das „andere Leben“, das für sie im September als Ensemblemitglied der Kammerspiele beginnt, in dessen Repertoire „Angst“ übernommen wird. Denn der Wechsel nach München, sagt sie, „der war Johans Entscheidung“.

Als die beiden sich an der Maastrichter Theaterakademie kennen lernten – sie als Schülerin, er als ihr Lehrer –, habe es zwar sofort „klick gemacht“, was die gemeinsame Auffassung von Theater angeht. Dennoch ging de Brauw bewusst noch zwei Jahre künstlerisch fremd, bis sie Simons’ Theatergruppe Hollandia beitrat und ihm ab 2005 auch ans NT Gent folgte, das Simons bis heute künstlerisch leitet. Heute noch schwärmt sie von den frühen gemeinsamen Jahren, als sie in Fabrikhallen und auf Schrottplätzen probten und spielten und die vorgefundene Umgebung als Bühnenbild nutzten. „Solche Orte“, sagt de Brauw, „haben eine konkrete Kraft. Dazu muss man sich verhalten wie zur Natur, zu einem Kind oder Tier.“

Hier ist Simons’/de Brauws antipathetisches, antimimetisches Theater entstanden, das auch in München wieder sogenannte „Stadträume“ erobern möchte. Und das als intellektuelles Theater für jedermann eine immerwährende Gratwanderung probiert. Und dann erzählt Elsie de Brauw, warum sie sich nach dem holländisch-flämischen so auf das theateraffine deutsche Publikum freut. Sie habe jüngst holländischen Surfbrett- und „Eiermaschinenverkäufern“ zu erklären versucht, was eine Theaterschauspielerin tut. Dasselbe einem Marsmenschen zu erläutern dürfte kaum komplizierter sein.

■ Programm Salzburger Festspiele www.salzburgerfestspiele.at