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Archiv-Artikel

Bosnischer Spitzenpolitiker wird nicht ausgeliefert

GROSSBRITANNIEN Gericht: Vorwürfe Serbiens gegen Expräsident Ejub Ganic sind politisch motiviert

SARAJEVO taz | Die Öffentlichkeit in Sarajevo hat erfreut auf die Entscheidung eines britischen Gerichts vom Dienstag reagiert, den früheren bosnischen Spitzenpolitiker Ejub Ganic nicht an Serbien auszuliefern. Das Gericht erklärte, die Vorwürfe gegen den 64-jährigen Gründer einer Privatuniversität und international renommierten Naturwissenschaftler seien „politisch motiviert“. Richter Timothy Workman kam zu dem Schluss, dass es „keine stichhaltige Begründung“ gebe, ein Verfahren gegen den ehemaligen bosnischen Politiker einzuleiten.

Die serbische Staatsanwaltschaft wirft Ganic vor, zu Beginn des Krieges, am 3. Mai 1992, für den Tod von 60 Soldaten der jugoslawischen Armee verantwortlich zu sein. Damals hatte die aus Serben bestehende jugoslawische Armee einen Belagerungsring um die Stadt aufgebaut, diese beschossen und den Präsidenten, Alija Izetbegovic, am Flughafen festgenommen.

Die von bewaffneten Verteidigern eingeschlossenen noch in der Stadt befindlichen Einheiten der Armee sollten freies Geleit erhalten. Im Gegenzug sollte Präsident Izetbegovic nach Sarajevo entlassen werden.

Festnahme in Heathrow

Der Vize Izetbegovics, Ejub Ganic, war in dieser Situation agierender Präsident. Beim Abzug kam es zu Schießereien, bei denen 60 serbische Soldaten starben. Die serbische Staatsanwaltschaft sieht darin ein schweres Kriegsverbrechen und ließ Ganic über Interpol suchen. Am 1. März wurde er nach einem Besuch der Birmingham-Universität aufgrund des Belgrader Haftbefehls auf dem Flughafen Heathrow festgenommen. Serbien stellte einen Auslieferungsantrag.

Nach fünf Monaten Haft und Hausarrest kann Ejub Ganic nun mit seiner Familie nach Sarajevo zurückkehren. „Wir sind nicht glücklich mit der Entscheidung“, sagte der serbische Staatsanwalt für Kriegsverbrechen, Vladimir Vukcevic. Sein Land werde gegen die Entscheidung Berufung einlegen. Dagegen erklärte der Berater des bosnischen Präsidenten, Damir Arnaut, gegenüber der taz, dieser Richterspruch sei eine große Niederlage für Serbien, das mit diesem Verfahren die Schuld am Ausbruch des Krieges von sich abwälzen und auf alle gleichmäßig verteilen wollte.

Der Generalsekretär der nichtnationalistischen Partei „Nasa Stranka“, Srdzan Dizdarevic, wertete das Urteil als Endpunkt eines „normalen rechtsstaatlichen Verfahrens, wie es überall durchgeführt werden sollte.“ Die Verhaftung Ganic’ in London erfolgte an dem Tag, an dem der Ex-Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, erstmals vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag vernommen wurde. Diesen Umstand werteten viele Bosnienexperten als Versuch Serbiens, von dem Karadzic-Prozess abzulenken. ERICH RATHFELDER