Wahnsinnsprojekt im Paradies

AUS XIAOSHABA GEORG BLUME

Die Bäuerin trägt eine blaue Schiebermütze und einfache Plastikschlappen. Bei jedem Schritt versinken ihre Absätze im Matsch, dennoch bewegt sie sich schnell vorwärts über ihr Maisfeld, vorbei an Kapokbäumen und üppigen Bananenstauden, die mitten in der Landschaft stehen. Das Feld ist lang und schmal, es säumt das steile Ufer des Flusses Nu, der hier durch den „Grand Canyon des Ostens“ fließt.

Hin und wieder dreht sich die Bäuerin um, als wolle sie etwas sagen. Aber niemand würde sie hören – zu laut brüllt der gewaltige Strom neben ihr. Nach einer Viertelstunde erreicht sie die Stelle, wo ihr Feld endet. Eine steile Felswand begrenzt hier den Fluss, bis in fünftausend Meter Höhe bauen sich die Berge über dem Tal auf. Die Bäuerin zeigt auf ein großes schwarzes Loch im Felsen. „Die Höhle ist sehr tief“, schreit sie so laut, dass man sie gerade versteht.

Dies ist exakt die Stelle, an der das größte chinesische Staudammprojekt aller Zeiten starten soll – am mittleren Lauf des Nu, in der zweitgrößten Schlucht der Welt. Nur der Grand Canyon in den USA ist länger als diese 310 Kilometer lange Schlucht in der südwestchinesischen Provinz Yunnan.

Der Canyon ist ein machtvolles Naturspektakel. Keine Städte, keine Fabriken, keine Touristen stören dieses ökologische Wunder. Den Namen „Nu“, auf Chinesisch Wut, trägt der Fluss zu Recht, lärmend wie ein wütender Riese bricht er sich Bahn vom tibetischen Hochplateau durch die Berge zum Indischen Ozean. In Birma und Thailand heißt er Salween, er ist 3.200 Kilometer lang und zählt zu den wasserreichsten Abflüssen des Himalajas. Hier in Yunnan führt er viel Wasser.

Am Ausgang des Canyons liegt Xiaoshaba, das kleine Dorf, in dem die Maisbäuerin lebt. Hier ist der Nu schmal, etwa wie der Rhein bei Köln. Doch er braust und tost. Über den sprudelnden Wassermassen erheben sich die Berge, sie reichen hinauf über sechs Klimazonen: von 760 Meter bis auf 6.740 Meter über dem Meeresspiegel. Weiter im Westen kreuzen sich die Wege von Tiger und Panter im tropischen Dschungel, hier fürchten sich die Menschen noch, den Wald zu betreten, weil es vor grünen Giftschlangen wimmelt. 173 Säugetierarten, 417 Vogel- und 59 Reptilienarten haben Forscher im Nu-Canyon gezählt, darunter 79 vom Aussterben bedrohte Tierarten. Auch deshalb wurden seine westlichen Hänge, die Gaoligong-Berge, im Juli 2003 von der Unesco zum Weltnaturerbe erklärt. Nur Wochen später, im August, machte die Provinzregierung von Yunnan erstmals ihre Staudammpläne am Nu bekannt.

Mehr Energie als der Yangtse

Ein Wahnsinnsprojekt. Die Wassermassen des Nu stoppen – wie soll das gehen? Mit einer 300 Meter hohen Mauer, sagen die Wasserbauingenieure des Pekinger Kraftwerkskonzern Guodian. Und zwar da, wo heute noch Xiaoshaba liegt, das Dorf der Maisbäuerin. „Dann können hier Schiffe fahren“, hat sie gehört. Das Felsloch, zu dem sie die Besucher geführt hat, haben Guodian-Arbeiter schon vor zwei Jahren in den Berg gebohrt. Sie wollten untersuchen, ob der Fels dem Druck einer Staumauer standhalten kann. Der Befund war positiv.

Die Staumauer bei Xiaoshaba sollte die erste sein. Zwölf weitere Dämme und unzählige Turbinen, die eine Gesamtenergieleistung von 22.000 Megawatt erbringen könnten, wurden projektiert. Der Nu sollte mehr Energie als der Yangtse am berühmt-berüchtigten Dreischluchtenstaudamm liefern: soviel wie 22 Atomkraftwerke. Ein Mammutvorhaben, um den riesigen Energiehunger des Landes zu stillen.

Dann aber geschah das Unvorhergesehene: Peking spielte nicht mit. Premierminister Wen Jiabao meldete im Frühjahr 2004 Bedenken an und bat in einem Brief um die Konsultation von Umweltexperten. Der Premier tat etwas bis dahin in der Volksrepublik nie Dagewesenes: Er verlangte die Anwendung des Umweltfolgenfeststellungsgesetzes. Das Gesetz, kurz zuvor, am 1. September 2003 verabschiedet, verlangt umfassende ökologische Untersuchungen im Planungsstadium großer Projekte. Und es sieht die Möglichkeit öffentlicher Anhörungen vor. Unter Umweltschützern gilt es als vorbildlich. Wen, so schien es, wollte in Sachen Nu-Damm ein Beispiel geben. Er reagierte auf die Kritik der in Peking stetig an Einfluss gewinnenden NGO-Umweltbewegung – und heimste den Applaus von Umweltorganisationen in der ganzen Welt ein.

Das ist inzwischen zwei Jahre her. Die öffentlichen Expertenanhörungen haben nicht stattgefunden und Chinas Umweltschützer fordern immer noch vergeblich die Veröffentlichung der angeblich bereits vorliegenden Umweltgutachten. „Schreckt die Kommunistische Partei vor der Anwendung ihrer eigenen Gesetze zurück?“, fragte kürzlich die New York Times in Sachen Nu-Damm skeptisch.

Immer näher rückt der Tag der Entscheidung. Die Bauern in Xiaoshaba kriegen das zu spüren. Nur einen Kilometer flussabwärts von ihrem Dorf wird gerade eine Neubausiedlung errichtet, auf den Häusern wehen rote Fahnen, auf denen der Aufbau eines „neuen sozialistischen Dorfes“ verkündet wird. In zwei Monaten sollen die modernen Reihenhäuschen fertig sein, dann werden die 400 Bauern von Xiaoshaba, darunter auch die Bäuerin mit der Schiebermütze, ihre alte Bambushütten verlassen und umsiedeln, um für den Dammbau Platz zu machen.

Die Bauern sind begeistert. Sie freuen sich auf fließend Wasser und eine zuverlässige Stromversorgung. Sie wollen Schweinestall und Latrinen endlich hinter sich lassen. Sie glauben, dass ihnen der Dammbau über Jahre hinweg Lohn und Brot bringen wird. „Ihr aus den Städten liebt die Berge, wir hassen sie“, ruft eine Bäuerin in Xiaoshaba. „Das hier nenne ich Luftverschmutzung!“, sagt sie zum Gestank des Schweinestalls.

Den Behörden vor Ort kommt die Reaktion der Bauern zupass. Mit deren frühzeitiger Umsiedlung können sie demonstrieren, dass der Dammbau im Sinne der Menschen im Tal ist. Tatsächlich müssten für den Bau aller geplanten 13 Dämme am Nu nur 50.000 Menschen umziehen, so dünn besiedelt ist die Gegend. Am umstrittenen Drei-Schluchten-Staudamm mussten mehr als eine Million Menschen gehen.

Dem Streit am Strom tut das keinen Abbruch. Es geht hier eben nicht um die Verletzung von Menschenrechten oder die Unterdrückung von Bauern wie bei anderen Großprojekten. Es geht um die Abwägung zwischen wirtschaftlichen und ökologischen Interessen: Wachstum oder Umweltschutz? Staudamm oder Naturpark? Nie zuvor hat sich der KP diese Frage in so sichtbarer Form gestellt wie am Nu. Und nie zuvor hat die Partei auch nur eine Sekunde gezögert, sich für Wachstum und Staudamm zu entscheiden. Am Nu aber schiebt sie die Entscheidung schon Jahre vor sich her, und das, obwohl der Energieverbrauch des Landes allein im letzten Jahr um 9,5 Prozent gestiegen ist.

Der Fluss ist das deutlichste Symbol der jungen chinesischen Umweltbewegung. Premier Wen hat dazu selbst beigetragen, indem er die Nu-Entscheidung auf die höchste Parteiebene, in den ständigen Ausschuss des Politbüros geholt hat. Ordnet die KP nun – trotz seiner Bedenken – den Dammbau an, liefert sie der Ökobewegung auf Jahre Grund zum Protest, zumal diese mit der Rückendeckung der Unesco rechnen kann. Schon im Juli 2005 meldete das Welterbe-Komitee der Unesco Bedenken an, auch wenn die Staumauern nicht unmittelbar auf dem als Weltnaturerbe geschützten Gebiet liegen.

Streit am Strom

Gleichwohl täuscht der Eindruck, die KP würde nur auf äußeren Druck hin ökologisch denken. Der Sinneswandel kommt heute auch aus der Partei selbst. Stellvertretend dafür steht Yuan Xiwu, der 20 Jahre in der Volksarmee diente, bevor er Leiter der Propaganda- und Politikabteilung des Umweltamtes der Provinz Yunnan wurde. Xiwu trägt sein kurzärmliges Hemd über der Hose, darunter in weißem Zickzack gemusterte Socken. Er raucht, wackelt nervös mit den Knien und hat einen blitzblanken Schreibtisch, als gäbe es für Umweltbeamte in Yunnan nichts zu tun. Yuan Xiwu hat nachgedacht. „Die Erschließung der Wasserenergie am Nu ist ein typisches Beispiel für den Widerspruch zwischen Wachstum und Umweltschutz“, erläutert er. China müsse mit diesem Widerspruch auf neue Weise umgehen lernen. Erst die Umwelt verschmutzen, dann die Folgen bekämpfen – das ginge nicht mehr. „Wir dürfen die Geschichte nicht wiederholen und erst bei 3.000 Dollar Pro-Kopf-Einkommen mit dem Umweltschutz beginnen. Wir müssen heute bei 1.000 Dollar beginnen, denn die Bedingungen in China mit so vielen Menschen sind andere als früher im Westen.“

Yuan Xiwu ist ein alter Kommunist der neuen ökologischen Schule, er kann die Staudammpläne seiner Provinzregierung nicht offen kritisieren. Aber er sagt, über den Nu müsse die Zentralregierung, nicht die Provinz entscheiden. Er kleidet in diese Worte seine Hoffnung, dass in Peking über den Staudamm kritischer gedacht wird als hier. Denn anders als die Bäuerin mit der blauen Schiebermütze kann sich Yuan Xiwu nicht vorstellen, dass im Grand Canyon des Ostens eines Tages Schiffe fahren. Er denkt weiter: „Früher war die Armee der beste Dienst am Vaterland, heute ist es der Umweltschutz.“