DIE ACHSE DES TÜRKPOP - VON DANIEL BAX
: Brooklyn-Flair am Bosporus

Serdar Ortac ist einer der beständigsten Arbeiter im türkischen Pop: Zwar kein Schönling vom Schlage eines Mustafa Sandal oder Tarkan, doch für mindestens einen Sommerhit pro Saison immer gut. Inzwischen hat er in der Türkei sogar eine eigene TV-Show.

Angefangen hat als DJ in Clubs und bei einem privaten Radiosender in Istanbul, als Autor komponierte er Hits für Popstars wie die Schauspielerin Hülya Avsar. Dann erst versuchte er sich selbst als Sänger, mit großem Erfolg.

Dass seine Mischung aus Dancefloor-Pop mit House und anderen elektronischen Einflüssen auch über die Türkei hinaus gut ankommt, zeigte sich vor ein paar Jahren: Da landete er sogar in Mexiko einen Hit. Eine internationale Karriere hat er bislang aber nicht so richtig in Angriff genommen.

Dass er das Zeug dazu hätte, zeigt sein jüngster Hit „Sor“: Nahe am R’n’B gebaut, macht er damit sogar Tarkan Konkurrenz, der mit seinem englischsprachigen Album ja gern den US-Markt erobert hätte. Serdar Ortac zeigt, dass man auch zu Hause auf Weltniveau machen kann: Für das Musikvideo holte er sich gar eine ganze Truppe von Street-Dancerinnen vor die Kamera und hampelte dort mit ihnen herum, als wär’s ein HipHop-Clip: Brooklyn am Bosporus.

Schade, dass ein Großteil des Albums dagegen nur die handelsübliche Pop-Meterware ist.

Serdar Ortac: „Mesafe“ (Emre Plak)

Credo der unabhängigen Frau

„Meinen einzigen Edelstein habe ich mir selbst gekauft“, singt Nil auf ihrem neuen Album, und spielt damit auf das berühmte Zitat von Marilyn Monroe an, wonach Diamanten die besten Freunde einer Frau seien. Sie hat zu diesem Thema eine eigene Meinung: Es reiche völlig aus, wenn sie ein Herz aus Gold hätten, die Männer, heißt es in „Pirlanta“ („Diamant“). Das Geld für Schmuck verdiene sie sich lieber selbst, so das Credo der unabhängigen Frau.

Berühmt wurde Nil, als sie vor einigen Jahren als „Özgür Kiz“, was so viel wie freies Mädchen bedeutet, in einem Werbespot für eine türkische Telefonkartenfirma auftrat. Diese Rolle spielt Nil auch als Sängerin: In ihren Songs pfeift sie auf Konventionen und nähert sich auf ihrem dritten Album dem endlosen Thema Männer, Frauen und ihre Beziehungsprobleme wieder mit viel Ironie. In dem Stück „Peri“ („Elfe“) veralbert sie männliche Projektionen – „Er hält mich für eine Prinzessin oder Elfe, egal, was ich tue“. Und in dem Stück „Sarhos“ („betrunken“) beschreibt sie anschaulich, wie sie aus Liebeskummer vor Selbstmitleid zerfließt. Am Ende bricht sie zusammen: „Ich bin nicht betrunken. Ich bin nur sehr langweilig. Sehr, sehr langweilig“.

Das erinnert, in seiner Koketterie und gespielten Mädchenhaftigkeit, ein wenig an französische Pop-Chanteusen wie Jane Birkin oder Vanessa Paradis.

Nil: „Tek tasimi kendim aldim“ (Sony BMG Türkiye)

Rehabilitation des Schmerzensmanns

Müslüm Gürses, den seine Fans nur „Müslüm Baba“ nennen („Vater“ oder „Pate“), ist der Traurigste der Traurigen. Der Mann mit dem brickettgroßen Schnurrbart hat auch privat alle Höhen und Tiefen, vor allem aber die Tiefen des Lebens ausgekostet. So konnte er die orientalische Schmerzensmusik namens Arabesk glaubhaft von der Melancholie zum puren Masochismus treiben. Seine Fans sind berüchtigt dafür, dass sie mit Rasierklingen zu seinen Konzerten kommen, um sich zu seiner Musik ins Fleisch zu schneiden: um den Schmerz wirklich mitzufühlen.

Mit seiner morbiden Outlaw-Attitüde ist Müslüm Gürses das, was Johnny Cash für die Country-Musik war. Und so wie Johnny Cash, hat auch ihm ein cleverer Produzent einen Stilwechsel verordnet. Statt noch ein Album mit lebensüberdrüssigen Arabesk-Gesängen zu füllen, interpretiert er mit brüchiger Stimme einige der größten Songwriter der westlichen Welt, von Garbage, Bob Dylan, Leonard Cohen bis Björk.

Schon das Video zeugt mit seiner blaustichigen Rammstein-Ästhetik vom Kunstwillen, die Texte stammen von Murathan Mungan und anderen Gegenwartsliteraten. Das dürfte ihm eine neue, intellektuelle Hörerschaft bescheren, aber von den alten Fans entfremden. Als einziges Zeichen, dass er der Alte geblieben ist, prangt das Logo eines Schnapsherstellers auf dem Cover: „Yeni Raki“ hat das Album gesponsert.

Müslüm Gürses: „Ask Tesadüfleri Sever“