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Archiv-Artikel

Mehr Pillen im Test

Alle Arzneimittel gegen Volkskrankheiten werden überprüft. Die Hersteller fürchten um den Absatz

BERLIN taz ■ Einen „Flächenbrand“ befürchtet der Verband forschender Arzneimittelhersteller und spielt dabei nicht auf das Wetter an. Die Brandstifter sitzen vielmehr im wohlklimatisierten Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).

Ihre abschlägige Bewertung des Nutzens künstlicher Insuline brachte den Gemeinsamen Bundesausschuss von Krankenkassen, Ärzteschaft und Klinikvertretern in dieser Woche dazu, die Insuline von der Liste kassenbezahlter Medikamente zu nehmen. Dem IQWiG liegen aber noch über 50 neue Medikamente vor, die es auf Basis internationaler Studien prüfen soll. Darunter Mittel gegen die „Volkskrankheiten“ Demenz, Asthma, Bluthochdruck und Depressionen. Kein Wunder also, dass die Hersteller nervös sind.

Allein die Zahl der Demenzkranken in Deutschland beträgt derzeit über eine Million. Jährlich kommen etwa 200.000 hinzu, und im Jahre 2050 könnten etwa 2 Millionen der über 65-Jährigen an geistigem Verfall leiden, prognostiziert das Robert-Koch-Institut.

Für die Behandlung eines Demenzkranken geben die Krankenkassen im Durchschnitt 1.100 Euro pro Jahr aus. Für die Therapie verschreiben die Ärzte auch Medikamente, deren chemische Struktur Insektiziden gleicht und die den Krankheitsverlauf eindämmen können.

Das IQWiG überprüft derzeit bei drei Präparaten, ob der Nutzen die beträchtlichen Risiken – Kopfschmerzen, Inkontinenz, Übelkeit – überwiegt. Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft stuft diese Mittel in ihrer Therapieempfehlung dennoch als erste Wahl ein – mangels echter Alternativen.

Doch der Arzt und Apotheker Wolfgang Becker-Brüser bleibt skeptisch. Der Nutzen einer medikamentösen Behandlung sei nicht zweifelsfrei gesichert, meint der Herausgeber des pharmakritischen Arznei-Telegramms. „Unter Umständen kann sich der Gesundheitszustand sogar verschlechtern.“ Nützlicher für die geistige Beweglichkeit seien oft soziale Kontakte. „Wenn die Überprüfung der Mittel keinen relevanten Nutzen zutage fördert, dann gibt es keinen Grund, warum sie weiterhin erstattet werden sollen“, meint er.

Dagegen meint eine Beraterin der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft, selbst wenn man nicht wüsste, wie es wirkt, sollte jeder die Chance haben, es auszuprobieren.

Die Informationslücken der Ärzte und Patienten nutzen die Hersteller, indem sie vermeintliche Neuheiten auf den Markt bringen, die keinen zusätzlichen Nutzen haben, aber teurer sind. Das Einsparpotenzial, das sich ergäbe, wenn solche Analogprodukte von den Kassen nicht mehr bezahlt werden müssten, wird im Deutschen Arzneimittelreport auf 3,2 Milliarden Euro allein für das letzte Jahr veranschlagt. ANNA LEHMANN