: „Es gibt keine Einzelstars“
Nepal trifft Singapur via Lingen: Das Weltkindertheater-Fest knüpft Verbindungen, setzt auf Fremdheitserfahrung – und erzeugt Konzentration. Ein Gespräch mit Norbert Radermacher
Interview Benno Schirrmeister
Japan, Kuba, Emsland: Seit 1990 gibt es das Weltkindertheater-Fest. Es findet im Wechsel rund um den Globus statt – und alle vier Jahre in Lingen, wo es entstanden ist: Initiiert hat es Norbert Radermacher, Gründer und Direktor des dortigen theaterpädagogischen Zentrums. Er ist auch künstlerischer Leiter der neunten Festivalausgabe, bei der sich 28 Kinder- und Jugend-Ensembles von allen fünf Kontinenten vorgestellt haben. Heute endet das neuntägige Fest.
taz: Das Weltkindertheater-Fest setzt stark auf Fremdheitserfahrungen: Es gibt keine Übersetzung, keine Untertitel. Warum?
Norbert Radermacher: Das ist eine bewusste Entscheidung. Wir lassen die Bilder und die Szenen so stehen. Und die Kinder können damit umgehen. Sie lesen sozusagen das Theater. Das ist doch das Spannende an der Sache: Theater wird verstanden – wird sogar weltweit verstanden. Das merkt man ja auch an der Konzentration, mit der das Publikum die Stücke verfolgt: Ich habe in der 16-jährigen Geschichte des Weltkindertheater-Festes nicht eine Aufführung erlebt, wo im Saal Unruhe gewesen wäre. Das ist sehr ungewöhnlich für Kindertheater.
Zugleich wird diese Fremdheit durch die Vielzahl der Spielarten verschärft: Chinesische Oper, Problemstücke, eine kleine Broadway-Show. Warum diese Formenfülle?
Es wäre natürlich möglich, dass sich der künstlerische Leiter weltweit die Gruppen heraussucht, die er gern hätte…
… wie bei Profi-Festivals …
Wir machen das bewusst nicht, weil wir – mit dem Internationalen Amateurtheaterverband – auch eine Struktur fördern wollen. Deshalb muss es eine gewisse Bandbreite geben. Und vor allem: Es müssen alle Kontinente vertreten sein. Wir können uns nicht konzentrieren auf bestimmte Zusammenhänge.
Warum?
Entscheidend ist, dass sich so das Netz von Kindertheatern aktiv entwickeln lässt. Zum Beispiel hat sich in Bangladesch auf Basis eines der früheren Weltfestivals eine riesige Struktur von Straßenkinder-Theatergruppen aufgebaut. Oder jetzt: Da setzen sich die Kollegen aus Indonesien, Indien, Bangladesch, Nepal und Singapur zusammen und sagen: Wir wollen uns in unserer Region mehr zusammenschließen. Die haben sich hier getroffen. Deshalb müssen auch andere Dinge bei der Auswahl eine Rolle spielen als die Qualität: Ich lasse auch zu, dass hier Stücke gezeigt werden, die dem deutschen Publikum nicht gefallen.
Also keine Leistungsschau …
Absolut keine Leistungsschau!
Dabei wird doch der Leistungsgedanke in letzter Zeit oft so stark gemacht – und etwas auf die Bühne zu stellen ist doch auch eine Leistung …
Ja, natürlich. Aber in einem sehr produktiven Sinn – weil sie über Teamarbeit erbracht wird. Es ist nicht die individuelle Leistung. Hier gibt es keine Einzelstars.
Im Programm aber. Da gab es – klar: Jubiläumsjahr – so einige Bezüge auf Mozart. Das geniale Kind – und Paradebeispiel für elterliche Dressur …
Also das Mozart-Thema ist eher über die Kindersinfonie seines Vaters Leopold reingerutscht, die in relativ kurzer Zeit ermöglicht, unser Motto musikalisch aufzunehmen: Let’s play together. Das war der Anknüpfungspunkt. Das war nicht programmatisch. Diese Form der Beziehung zwischen einem Vater und seinem genialen Sohn – das ist nicht, was ich mit Leistung meine: Es geht um eine Leistung, die von innen kommt.
Gemessen an der Größe des Weltkindertheater-Fests – 28 Gruppen, 500 SpielerInnen – ist das Medienecho sehr verhalten. Liegt das am Spielort Lingen? Oder am Genre Kindertheater?
Beides. Wir haben hier wirklich zwei Probleme. Einmal, dass Kultur in Deutschland immer noch stark von den Metropolen her definiert wird. Dabei sieht man, dass gerade im ländlichen Raum und in Kleinstädten mehr investiert wird in Sachen Kultur als in den Großstädten.
Wie bitte?
Na, also prozentual allemal: Wenn Berlin prozentual so viel Geld in Kultur stecken würde, wie die Stadt Lingen, ginge es den Einrichtungen dort wunderbar. Aber Kultur in den Regionen – das wird völlig ignoriert, besonders von den Bildmedien: Noch nicht einmal der so lokale NDR beteiligt sich in irgendeiner nennenswerten Form. Da gibt’s einen kurzen Spot in so einer Regionalschau – mehr nicht.
Ist das enttäuschend? Oder blüht es sich vielleicht sogar besser im Stillen?
Nein – ich finde das sehr enttäuschend. Auch im Vergleich zu den anderen Weltkindertheater-Festen. Ich war ja auch in den Organisationsteams in der Türkei, in Japan, in Kopenhagen. In Japan wurden die Aufführungen im Fernsehen übertragen – live! Und im ersten Programm! Und in der Türkei waren der Staatspräsident, der Regierungschef und die gesamte Ministerriege bei der Eröffnung anwesend. Hier kommt mal gerade ein Staatssekretär vorbei …
Dabei hätte man gedacht: Deutschland hat eine einzigartig dichte Bühnenlandschaft – wahrscheinlich ist man auch in Sachen Kindertheater vorn. Stimmt aber nicht?
Absolut nicht. Ich glaube, da gibt es auch eine völlig unreflektierte Haltung vieler Staats- und Stadttheater, die gar nicht einsehen, in welches Dilemma sie sich durch dieses Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen manövrieren: Wenn ich die Chiffren einer Kunst nicht kennen lerne – das gilt ja auch für Musik und Malerei – wie soll ich denn da später Interesse haben? Mir ist doch das Theater dann so fremd, dass ich damit nichts anfangen kann. Und dann muss man nicht lamentieren über sinkende Zuschauerzahlen und fehlende Subventionen.
Aber ist das wirklich selbst verschuldet?
Es gibt ja ganz andere Beispiele. Sehen Sie etwa nach England: Da müssen die Theater ein education-Programm auflegen, sonst bekommen sie keine Förderung. Das sollte sich hier mal durchsetzen.