Mit Gelassenheit in die Zwangspause

Berlins größte Hoffnung für die Leichtathletik-EM in Göteberg im August ist verletzt. Doch der Zehnkämpfer André Niklaus lässt sich trotzdem nicht aus der Fassung bringen. Er setzt auf langfristige Erfolge statt aufs Fitspritzen

Wie gravierend seine Verletzung ist, offenbart sich einem nicht auf den ersten Blick. Der rechte große Zeh bereitet André Niklaus Probleme. Im Alltag funktioniert er tadellos. Niklaus Gang sieht unbeschwert aus. Medaillentauglich ist er aber ganz und gar nicht, der große Zeh. Deshalb musste der Zehnkämpfer Niklaus seine Teilnahme an den Leichtathletikeuropameisterschaften in Göteborg im August absagen.

Ein Jammer. Die Presse und Vertreter vom Leichtathletikverband trauerten über sein Schicksal. Schließlich hatte er mit dem vierten Platz bei der WM 2005 und dem Hallen-WM Titel im März seine konstant gute Form unter Beweis gestellt. Für die EM zählte er zu den wenigen deutschen Medaillenanwärtern. Doch der gebürtige Berliner zeigt angesichts des abgesagten Saisonhöhepunktes Gelassenheit: „Die öffentliche Anteilnahme hat mir gut getan.“

In dieser einen Woche drehte sich alles um seinen Zeh. Niklaus testete seine Schmerzgrenzen aus: beim Werfen, Rennen und Springen, bei all seinen zehn Disziplinen. Mal glaubte er, der Schmerz sei zu stark, dann hoffte er wiederum, diesen doch überlisten zu können. Es war ein Auf und Ab. Schlussendlich wurde ihm dann beim 110-Meter-Hürdenlauf und Stabhochsprung klar, dass er zu weit unter seinen Möglichkeiten blieb.

Ursache dafür ist ein bei ihm gespaltener Knochen im Zeh, der eine für den Bewegungsablauf wichtige Sehne nicht mehr richtig entlasten kann. Niklaus vermutet, er habe sich eine Entzündung aufgrund von Überbelastung eingehandelt. Mit Kortison hätte er sich fitspritzen lassen können. „Wozu?“, fragt er und antwortet sogleich selbst: „Ich will nicht einfach nur dabei sein.“ Das noch gewichtigere Argument schiebt er hinterher. Kortison schade dem Gewebe. Er beabsichtige aber möglichst lange seine Sportart zu betreiben und sich lieber schrittweise als zu schnell zu verbessern.

Niklaus denkt langfristig an Olympia 2008 in Peking, an die Weltmeisterschaft 2009 in seiner Heimatstadt Berlin und daran, dass er im Verlaufe seiner Karriere seine bisherige Rekordmarke (8.316 Punkte) bis an die Grenze von 8.800 Punkten steigern möchte.

Das hört sich alles logisch fundiert an. Die Belastung von Zehnkämpfern ist extrem und ihre Verletzungsanfälligkeit dadurch besonders hoch. Frank Busemann, der letzte große deutsche Zehnkämpfer, quälte sich am Ende seiner Karriere von einer Verletzung zur nächsten. Für Niklaus ein warnendes Beispiel. Er sagt, so wolle er nicht aufhören. Dabei treten die als Könige der Athleten gerühmten Allrounder recht selten in Erscheinung. Sie bestreiten gewöhnlich drei bis vier Zehnkämpfe im Jahr. Angesichts der raren Möglichkeiten, sich zu beweisen, ist es jedoch verblüffend, wie locker der 24-Jährige das Jahr 2006 als abgehakt erklären kann.

Für Niklaus ist gerade diese Entspanntheit eine Grundvoraussetzung für den Erfolg. Lockerheit zählt er neben Talent und Willen zu den drei unabdingbaren Qualitäten eines guten Zehnkämpfers. Von Talent und Willen hat man ja schon viele Leistungssportler sprechen hören. Aber bevor sie das Wort Lockerheit in den Mund nahmen, war in der Regel von Disziplin, Disziplin und noch einmal Disziplin die Rede.

Das ist bei Niklaus anders. Vielleicht hat ihm die Süddeutsche Zeitung auch deshalb attestiert, er könne der „etwas andere Typ“ sein, nach dem man sich in der deutschen Leichtathletik wieder sehnt. Als „Hoffnungsträger“ wird er schon allerorten bezeichnet. Doch Niklaus wäre nicht Niklaus, würde er das nicht ganz locker nehmen. Von außen lasse er sich nicht unter Druck setzen, sagt er.

Sein Naturell scheint ihm spielend über alle schweren Lebenslagen hinwegzuhelfen. So kann er auch der langen Zwangspause durchaus etwas abgewinnen. „Ich genieße jetzt die Freizeit, die ansonsten eher knapp ist.“ Und neckisch mutmaßt er, seine Kollegen hätten sich bei ihm noch nicht gemeldet, weil sie neidisch auf ihn seien. Geradezu problemlos ist Niklaus vom Profisportler zum Müßiggänger geworden.

„Mal sehen, was der Tag noch so bringt“, sagt er. Mit Freunden an irgendeinen Strand fahren, das würde ihm gefallen. Trainieren, um fit zu bleiben? Dazu fehle ihm der Elan, bekennt er. Es ist aber nicht so, dass der ungenierte Lebemann Niklaus im luftleeren Raum schweben könnte. Er brauche sich für seine Freiheiten nicht zu schämen, erklärt er. Schließlich habe er dieses Jahr die Hallen-WM gewonnen. Daran will er anknüpfen, im nächsten Jahr eben. Johannes Kopp