Alle so ähnlich anders

„Shenzhen“ ist die Geschichte eines Kulturschocks, wie ihn der Zeichner Guy Delisle vor zehn Jahren erlebte. Doch China hat sich verändert. Ein verwunderter Vergleich von Comic und der Wirklichkeit

VON SUSANNE MESSMER

Da ist dieses blasse, niedergeschlagene Männlein mit der großer Nase. Es geht gerade in einem Menschenknäuel unter, einer chinesischen Menschenmasse. Erstaunlicherweise sehen gar nicht alle darin gleich aus. Im Gegenteil: Manche sind schmal, andere rund, manche haben eine hohe Stirn, andere ein fliehendes Kinn, die Nächsten spitze Münder. Das Einzige, was diese Gesichter verbindet: Man weiß sie nicht zu deuten. Aus der Sicht des Männleins wirken sie alle ähnlich anders.

Es ist das gute alte Gefühl der Einsamkeit in der Fremde, das den Comicband „Shenzhen“ des französischen Zeichners Guy Delisle organisiert. Schon auf den ersten Seiten lernt man, dass Delisle 1997 in Shenzhen war und dort einige Monate lang ein Trickfilmbüro leiten sollte. Der Band ist also autobiografisch inspiriert, wie es so schön heißt, und berichtet vom täglichen Einerlei zwischen Büroalltag und Isolationshaft im Hotel. Jeden Tag aufs Neue begrüßt der Hotelportier das gezeichnete Alter Ego Delisles: Er fragt nach Alter, Uhrzeit und der Anzahl der Kinder. Doch Delisles Held freut sich nicht. Ihm geht der Portier auf die Nerven. Im Büro fällt ihm auf, dass man hier gern mal zwischendurch den Kopf auf den Tisch legt und ein Nickerchen hält. Zu dieser durchaus vernünftigen Sitte fällt ihm nur ein, dass der Liefertermin näher rückt. Einmal lädt er seine Übersetzerin, die er für reserviert hält, zum Essen ein und fragt sie nach ihren Lieblingsbüchern. Als sie „Yes, very much!“ erwidert, bricht er sofort enttäuscht das Gespräch ab und rechnet die Tage bis zu seiner Rückfahrt nach Europa aus.

Die Fronten sind also geklärt. Bei der Lektüre dieses Bandes kann es nur darum gehen, sich mit der melancholischen Haltung des desorientierten Mitteleuropäers zu identifizieren, den es in eine Stadt verschlagen hat, die schneller wächst als alle anderen weltweit und überall für ihre funktionelle Hässlichkeit und brutale Zielstrebigkeit verschrien ist.

Zehn Jahre – das ist für chinesische Verhältnisse ein langer Zeitraum. Vielleicht hat sich in Shenzhen seit 1997 einiges getan? Es gilt, Delisles schrecklich trauriges, graues und trotz massenhafter Quirligkeit provinzielles Shenzhen mit der Wirklichkeit von heute zu vergleichen und über diesen Abgleich etwas über die jüngsten Entwicklungen in China zu erfahren.

Immer wieder zum Beispiel ist Guy Delisles gezeichneter Protagonist enttäuscht über die mangelnden Ausgehmöglichkeiten: „Kein Café, wo ich weltoffene junge Menschen treffen könnte.“ Der erste Auftrag lautet also: Weltoffene junge Menschen finden, zehn Jahre danach. Aber: Was sind überhaupt weltoffene junge Menschen? Chinesen, die Englisch können? Ein Hotelportier, der zu Weihnachten „Very Christmas“ wünscht? Oder etwa ein Europäer, dem das immer nur auf die Nerven geht und der nicht gewillt ist, auch nur ein einziges Wort Chinesisch zu lernen?

Suche nach Weltoffenheit in Shenzhen also erst einmal: Suche nach Englisch. Der Pub „English Corner“, wo Chinesen verkehren sollen, um Englisch zu lernen, ist genauso wenig aufzufinden wie im Comic. Dafür befinden sich heute an jeder Straßenecke die unabwendbaren amerikanischen Franchisefilialen. Die Leute, die vor allem im Starbucks meist zu zweit herumsitzen, könnten durchaus als weltoffen bezeichnet werden. Aber jung ist dann meist nur die Chinesin. Beim Gegenüber handelt es sich meist um einen amerikanischen Geschäftsmann in den Fünfzigern.

Da doch lieber nach den Bars suchen, die es vor zehn Jahren sicher noch nicht gab, da sie erst in den letzten Jahren überall in China sprießen wie die Keimlinge. Auf dem aktuellen Touristenstadtplan sind zehn, fünfzehn Bars verzeichnet, kaum eine lässt sich finden. Das „Spring Breeze Come By“ heißt jetzt „Kings Club“, und es gehen viele chinesische Männer mit nacktem Oberkörper ein und aus. Am „Crazy“ einige hundert Meter weiter ist gar nichts crazy – es locken die Logos von Hennessy und Heineken und die überwältigende Präsenz von drei, vier wohlgekleideten Gästen, die es sich leisten können, für ein Bier so viel hinzublättern wie in günstigen chinesischen Restaurants für ein mehrgängiges Abendessen.

Langsam kommt ein Verdacht auf: Ist es möglich, dass die Dinge, die sich in den letzten zehn Jahren getan haben, Shenzhen eher noch schrecklicher gemacht haben? Dass die einzige Chance, die man als Westler hat, die ist, die Dinge, die Delisles Held lästig fand, lustig zu finden? Essen gehen zum Beispiel, das Beste, was man in China machen kann. Rätselhaft, wie es das Strichmännchen schafft, dreimal die Woche im selben Lokal dasselbe Gericht mit Ei zu bestellen. Man hätte es auch vor zehn Jahren schon so machen können: Man gehe ohne chinesische Begleitung in die nächstbeste Nudelbude. Hier bestelle man, indem man auf die Gerichte der anderen Gäste zeige – denn außerhalb der Franchisefilialen spricht in Shenzhen tatsächlich auch heute noch kein Mensch Englisch. Man kichere ein wenig mit den adrett frisierten Kellnerinnen, die ein günstiges Frühstück aus Rosentee und Pflaumenlimo, gebratenen Auberginenmaultaschen und süßen Wasserkastanienpasteten servieren. Zwischendurch eine Suppe mit zartem Rindfleisch, und zum Abendessen lasse man sich geräucherten Karpfen, Dattelsalat und wilden Spargel schmecken. Wer wäre so blöd, es wie Guy Delisles Männlein zu halten?

Auf dem Rückweg ins Hotel fällt einem plötzlich auf: Natürlich gibt es ganz schön viele Schnellstraßen. Auf, neben und unter ihnen kann man sich immer noch verlaufen. Freundliche Fußgänger allerdings zeigen mit Händen und Füßen Schleichwege durch die Betonmassen hindurch. Selbst hier noch machen alte Leute Gymnastik. Wahrscheinlich wäre man als Mitturner willkommen. So könnte man diese Fitnessstudios vermeiden, in denen bis heute hauptsächlich Westler schwitzen und mit denen Delisles Held vorlieb nimmt.

Im Hotelzimmer dreht man noch ein eine ganze Weile an den Knöpfen am Nachttisch, bis alle Lichtschalter in der richtigen Richtung stehen und das Zimmer endlich dunkel ist. Auch Guy Delisles Männlein fummelt regelmäßig sorgenvoll an den Knöpfchen. Es lässt sich aber auch gut darüber lachen. Alles eine Frage der Perspektive.

Guy Delisle: „Shenzhen“. Reprodukt, Berlin 2006, 20 €