: Eine seltene Form europäischer Einheit
taz-Serie „Prekäre Leben“ (Teil 7): Nicht nur in Berlin hat die Zahl der unsicher Beschäftigten zugenommen. In vielen Städten Europas gibt es immer mehr Praktika und Selbstständige, aber weniger reguläre Jobs. Ein Blick nach Wien, Paris und Dublin
Wien: Boom der Zeitarbeitsfirmen
Bundeskanzler Wolfgang Schüller war am 1. Mai dieses Jahres voll des Lobes: „Die gute Nachricht zum Tag der Arbeit ist, dass wir heute mehr als 13.000 Arbeitslose weniger haben.“ Das seien weniger als je zuvor. Eines erwähnte er jedoch nicht. Er verschwieg diskret, dass die meisten der neuen Arbeitsplätze diesen Namen kaum verdienen. Die Zahl der „Working Poor“ ist zwischen 1998 und 2005 landesweit von 57.000 auf 253.000 angestiegen. 91.000 davon seien manifest arm, sagt Martin Schenk von der Armutskonferenz, einem Netzwerk gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Die restlichen seien akut armutsgefährdet.
Seit 1998 gibt es in Österreich offiziell den Status der so genannten geringfügig Beschäftigten. Wien ist ihre Hauptstadt. Genau 333,16 Euro monatlich dürfen sie verdienen, ohne lohnsteuer- und versicherungspflichtig zu werden. Dieses Einkommen erlaubt Arbeitslosen, etwas dazuzuverdienen, ohne die staatliche Unterstützung zu verlieren. Doch der Missbrauch ist groß: Allzu viele Unternehmer nutzen diese Regelung, um zahlreiche Menschen geringfügig anzustellen und so die Sozialversicherungsbeiträge zu umgehen.
Prekär beschäftigt sind längst aber nicht nur Ungelernte. Immer mehr Akademiker oder Menschen mit Fachausbildung finden ebenfalls keinen festen Arbeitsplatz mehr und müssen sich selbstständig machen. Gerne spricht man auch von „Ich-AGs“. Dazu gehören freie Journalisten genauso wie Fachleute, die sich von Projekt zu Projekt durchschlagen müssen.
Seitdem boomt in Wien die Branche der „Arbeitskräfteüberlasser“ – das österreichische Pendant der Zeitarbeitsvermittlungsagenturen in Deutschland. Sie sind das Produkt der zunehmenden Nachfrage nach flexibel einsetzbaren Arbeitskräften. 2005 waren 1.400 dieser Agenturen in Österreich registriert. 10 Angestellte haben diese Agenturen im Durchschnitt beschäftigt. Sie können aber auf über 44.000 Arbeitswillige zurückgreifen.
RALF LEONHARD
Paris: Praktika statt richtiger Jobs
Die Hochschulabgänger in Paris haben im Schnitt eine „Durststrecke“ von acht bis zehn Jahren vor sich, bis sie eine feste Anstellung bekommen. Das fand schließlich sogar Premierminister Dominique de Villepin „nicht normal“. Sein Therapievorschlag: der Erstanstellungsvertrag CPE. Wäre das Gesetz durchgekommen, hätten Arbeitgeber junge Berufseinsteiger auf Probe einstellen können. Der Kündigungsschutz wäre in den ersten zwei Jahren komplett entfallen. Doch die Studenten wehrten sich. Zu noch mehr prekären Beschäftigungsverhältnissen hätte der CPE geführt. Nach Protesten im Frühjahr musste Villepin das Vorhaben zurücknehmen.
Für Pariser StudentInnen ist der Uniabschluss schon lange kein Eintrittsticket ins Berufsleben mehr. War der CPE zunächst zur Überbrückung nach dem Studium gedacht, sind die meisten Absolventen nun zunächst als so genannte Stagiaires in privaten oder öffentlichen Unternehmen tätig. Um Berufserfahrung zu sammeln, lautet die gängige Erklärung. Doch längst ist der Missbrauch die Regel.
Frankreichweit gehen durch die 800.000 Unternehmenspraktika pro Jahr nach Ansicht des Wirtschaftsprofessors Jean-Marie Chevalier von der Pariser Dauphine-Universität mindestens 60.000 reguläre Arbeitsplätze verloren. Dass nicht nur profitsüchtige Unternehmen gern auf diese wohlfeilen Arbeitskräfte zurückgreifen, bestätigt auch der 23-jährige Sylvestre. Seinen Master hat er in Geschichte gemacht. 250 Euro bekommt er im Monat für das Praktikum in einer Stiftung. „Ich habe da richtig einen Arbeitsplatz besetzt und bei der Entwicklung eines neuen Projekts mitgearbeitet“, erzählt er. Übernommen wurde er danach trotzdem nicht. Sylvestre hat nun bereits seinen nächsten Praktikumsplatz. In einem Ministerium. Dort bekommt er gar kein Geld.
RUDOLF BALMER
Dublin: Illusion vom Paradies
Vom Armenhaus Europas zu einem der reichsten Länder der Welt: Seit Anfang der 90er-Jahre boomt die Wirtschaft in der irischen Hauptstadt Dublin. Die Arbeitslosenzahl ist gering, das Einkommen liegt deutlich über dem EU-Durchschnitt. Irland sei eine Art Schlaraffenland, schreibt die polnische Presse immer wieder. 200.000 Polen sind dem Schrei des keltischen Tigers, wie das irische Wirtschaftswunder genannt wird, gefolgt. Sie machen inzwischen 5 Prozent der irischen Gesamtbevölkerung aus.
Im Gegensatz zu den meisten EU-Ländern hat Irland für die Immigranten aus den neuen EU-Ländern keine Sperrfrist verhängt. Doch viele von ihnen kommen völlig unvorbereitet. Sie steigen in Berlin in einen Billigflieger und erwarten, dass sie in Dublin im Handumdrehen einen Job finden. Nur ein Viertel der polnischen Einwanderer hat sich vorher um einen Arbeitsplatz gekümmert, zwei Drittel haben bei der Ankunft keine Unterkunft und 78 Prozent nicht einmal 500 Euro in der Tasche. Von den horrenden Lebenshaltungskosten hat ihnen auch niemand erzählt. Und wer kein Englisch kann, ist völlig aufgeschmissen.
Täglich suchen bis zu 120 Menschen Obdachlosenasyle in Dublin auf, erzählt Tanya Lalor, die Autorin eines Berichts über Obdachlosigkeit. „Es sind nicht die typischen Obdachlosen“, so Lalor. Den meisten sei das zum ersten Mal passiert. Sie seien zwischen 30 und 40, hätten ein hohes Bildungsniveau und seien bloß Opfer von falschen Versprechungen geworden.
Tomasz Wybranowski, der die polnische Zeitung StrefaÉire in Dublin herausgibt, hat einen Artikel geschrieben mit dem Titel „Irland: Paradies oder Hölle?“. Er stellt fest: Selbst von denjenigen, die einen Arbeitsplatz haben, erhalten 38 Prozent weit weniger als den Mindestlohn. Wybranowski stellt in seinem Artikel zwei Fragen: „Wann endet die positive Wirtschaftslage in Irland? Und wann bricht ein irischer Rassismus gegen Osteuropäer aus?“ RALF SOTSCHECK