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Archiv-Artikel

Jeder Untergang ein Neubeginn

Kritik der Kritik (3): Das schlechte Bestehende zu analysieren reicht nicht für Gesellschaftskritik, sie muss immer auch an der Herstellung des Besseren arbeiten – nicht leicht, aber auch nicht unmöglich in unseren so fortschrittsskeptischen Zeiten

■ Kritikfähigkeit wird heute von jedem Schulkind erwartet. Aber wie steht es denn damit in der Kultur?Ist Kritik auf dem Rückzug, bedrängt durch die Kulturindustrie? Ist sie nötiger denn je? Und wie soll/kann/muss sie heute aussehen? Eine Artikelreihe zum gegenwärtigen Stand des kritischen Handwerks

VON ROBERT MISIK

Unter den Kritikern gibt es feine Unterschiede. Die „Literaturkritiker“ oder „Theaterkritiker“ haben es zumindest in einer Hinsicht leicht – sie haben einen Beruf, auch wenn wir uns nicht immer sicher sind, ob jeder Rezensent schon ein Kritiker ist, oder ob aus der Rezension nicht erst dann Kritik wird, wenn sie an Zeittendenzen mitschreibt, ihnen womöglich zum Durchbruch verhilft oder sie wortreich verdammt.

Dagegen ist es eher undankbar, als „Gesellschaftskritiker“ durchs Leben zu gehen. Muss der Literatur- oder Filmkritiker über spezielle Kompetenzen verfügen, so ist das beim Gesellschaftskritiker nicht notwendig der Fall; darf der Theaterkritiker Lob und Schelte maßvoll verteilen, so muss der Gesellschaftskritiker in der Regel „kritisch“, also „dagegen“ sein; unter Literaturkritikern stellt man sich ironische Menschen vor, die gute Weine trinken und Bücher lesen, unter Gesellschaftskritikern Leute, die erklären, dass das Trinken guter Weine irgendwie ungerecht gegenüber jenen ist, die sich nur billiges Bier leisten können. Als in einem Hörfunkbericht einmal gesagt wurde, ich lebe „als Gesellschaftskritiker in Wien“, hat mich das nicht nur gefreut: Einerseits klingt „Gesellschaftskritiker“ natürlich irgendwie bedeutender als, sagen wir, „Publizist“, andererseits fragte ich mich, ob die Radioleute damit nicht zum Ausdruck bringen wollten, ich sei ein wenig eigenartig. Mit der Gesellschaftskritik ist es also eine vertrackte Sache.

Die Sache hat sich noch kompliziert durch den Umstand, dass sich der Begriff von Gesellschaftskritik zuletzt allzu eng mit der Vorstellung einer gewissen Übellaunigkeit verbunden hat. Der Status der Kritik hat sich verändert, und das hat, eigentlich erstaunlicherweise, mit zwei Dingen zu tun: mit dem, was man so allgemein als „Utopieverlust“ bezeichnet, und mit dem erschütterten Glauben an sozialtechnische Steuerungsmöglichkeiten gesellschaftlicher Entwicklung. Erstaunlich ist das deshalb, weil Kritik doch im allgemeinen Verständnis „Kritik am Bestehenden“ meint, ganz unabhängig davon, ob dieselbe Vorschläge oder auch nur die Hoffnung auf etwas Besseres impliziert. Ja, wesentliche Stränge „kritischen Denkens“ sind sogar in bewusster Abgrenzung zu pausbäckiger Weltverbesserung entstanden, haben die Hinwendung zur „realen Wirklichkeit“ regelrecht zelebriert – allen voran der Marxismus, der die Utopistik verdammte und proklamierte, der Kommunismus sei kein „Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten habe“.

Aber doch war das, was wir seit 200 Jahren als „Gesellschaftskritik“ bezeichnen, von inneren Motiven des Utopischen durchzogen. Damit ist nicht gemeint, dass Gesellschaftskritik die realitätsfremden Kopfgeburten oder aseptischen Fantasien braucht, die die utopische Literatur immer prägten, mögen wir etwa an Thomas Morus’ „Utopia“ aus dem 16. oder noch an Ernest Callenbachs „Ökotopia“ aus den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts denken. Aber gleichzeitig hat Gesellschaftskritik nicht einfach gemeint, zu kritisieren, was eben wert ist, kritisiert zu werden. Gesellschaftskritik bedeutete, zu kritisieren, damit Besseres entstünde; Kritik an Kritisierenswertem, ohne die tiefe Überzeugung, dass aus dieser Kritik eine Verbesserung folge, ist nicht Kritik, sondern eine Jeremiade, oft mit einem Schuss ins Katastrophische und meist mit mehr als einer Prise Nostalgie.

Zwar haben sich „Gesellschaftskritiker“ seit je gegen das Konstruktivitätsgebot zu wehren gehabt, diesen Imperativ böswilliger Realisten, wonach, wie Adorno dies charakterisierte, Kritik nur „der üben könne, der etwas Besseres anstelle des Kritisierten vorzuschlagen habe“. Doch wenngleich der Urvater der Kritischen Theorie anmerkte, durch solche „Auflage des Positiven“ würde „Kritik von vornherein gezähmt und um ihre Vehemenz gebracht“, so war er doch sicher, dass „das Falsche, einmal bestimmt erkannt und präzisiert, bereits Index des Richtigen, Besseren ist“. Man sieht: Noch im Dementi des Konstruktivitätsgebots liegt aller Ton nicht auf der Kritik am Falschen, sondern an der Herstellung des Besseren.

Gewiss bedarf Kritik nicht der utopischen Ausmalung einer besseren, vernünftigeren Welt, aber doch utopischen Zeiterlebens. Darauf weist schon der etymologische Ursprung des Wortes Kritik hin – griechisch krino: scheiden, trennen. Ein Akt der Kritik impliziert, dass etwas in eine Krise (nicht nur etymologisch eine nahe Verwandte der Kritik) geraten ist und durch Neues ersetzt werden müsse. Kritik, so der Theoretiker Boris Buden, „ist nichts als der Akt dieses Urteils, das dem Alten helfen sollte, rasch zu sterben, und das dem Neuen zu einer leichten Geburt verhelfen sollte“. Kritik wird also getragen von der Idee eines „besseren Neuen“ und ist schon von daher ohne eine zumindest „schwache“ Utopie kaum denkbar. Anders gesagt: keine Kritik ohne optimistisches Zeitempfinden. Mit der zerzausten Fortschrittsidee steht auch die Kritik ramponiert da.

Doch Gesellschaftskritik war nicht nur getragen von der Idee eines utopischen Zustandes, oft von der wenigstens impliziten Idee irgendwelcher „Idealstaaten“, sondern auch von der schwächeren Idee, dass Gesellschaften vernünftig gesteuert werden könnten. Das Schlechte wurde ja nicht nur als Folge böser Absichten, etwa machthungriger Herrscher, interpretiert, sondern als Folge von Unaufgeklärtheit der breiten Masse und als Resultat chaotischer Unordnung – oder als das vorläufig Noch-nicht-ganz-Gute, dessen Schwächen, einmal erkannt, ausgeräumt werden könnten. Dahinter stand der sozialtechnische Glaube, dass Gesellschaften vernünftig zum allgemeinen Vorteil gesteuert werden können, besonders dann, wenn sich breite aufgeklärte Volksmassen an dieser Steuerung beteiligen. Dieser Glaube ist heute durch die Überzeugung ersetzt, dass alle Hebel zur Steuerung eines solch komplizierten Gefüges wie „Gesellschaft“ zu unterkomplex für die Komplexität der Aufgabe seien. Das Resultat ist die (ebenso fragwürdige) Gewissheit, dass wir im Grunde nichts mehr tun können, weil unsere Handlungen zur Lösung der Probleme von heute sofort unintendierte Folgen zeitigen und nichts hervorbringen als die Probleme von morgen.

Die Kritik ist heute also an einem „kritischen Punkt“, und da hilft die sicherlich sehr richtige Proklamation wenig, dass es doch genug zu kritisieren gäbe. Ist „Gesellschaftskritik“ aber renovierbar? Um das etwas holzschnittartig zu sagen: Wer Kritik renovieren will, muss zunächst begreifen, dass der Verlust des utopischen Zeitempfindens auch den Status von Gesellschaftskritik nicht unbeschädigt lässt. Danach müsste er aufspüren, ob es noch Restbestände des Utopischen in unserer „antiutopischen“ Gegenwart gibt. Und er muss erklären können, dass es einen Unterschied macht, ob sich Menschen dafür einsetzen, die „besseren“ Möglichkeiten zu realisieren. Er darf sich nicht begnügen, darzutun, was er an der Gegenwart als schlecht empfindet, sondern er muss Tendenzen in der Gegenwart suchen, die dem Besseren günstig sind. Schließlich ist es das doch, was „Fundamentalkritik“ so schwer erträglich macht: dass sie auf eine Wirklichkeit, die ihr nicht gefällt, nur beleidigt reagiert.

Es steht schlecht um die „Gesellschaftskritik“, wenn das Bestehende nur schlecht ist. Für den Kritiker ist das Schlechte immer auch eine Chance. Diese Maxime auf die Kritik selbst angewendet, heißt natürlich, dass sie immer „neu beginnen“ muss, was sich leicht sagen, aber schwerer realisieren lässt – schließlich gilt auch für den Geschichtsfundus der Kritik, was Marx über alle Historie sagte: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“ Für den Kritiker gibt es keine Krise, die nicht auch eine Möglichkeit ist, und nichts Neues, das nicht auch ein Versprechen ist. „Nur der Einverstandene hat Chancen, die Welt zu ändern“, schrieb Walter Benjamin.

Ist eine „Kritik“, die ihren Namen verdient, heute überhaupt noch möglich? Ich denke, vorsichtig, schon.

Am 11. Juli schrieb in dieser ReiheMichael Rutschky, am 18. JuliCristina Nord