„Die Trinkgelage sind nicht übertrieben“

MUTTER UND SOHN Ein Gespräch mit dem koreanischen Regisseur Bong Joon-ho über seinen Film „Mother“, die dramaturgischen Strategien, die er einsetzt, um die Genregrenzen zu durchbrechen, und schließlich das Bild, das sein Film von der koreanischen Gesellschaft entwirft

■ geboren 1969, einer der erfolgreichsten Regisseure Südkoreas. In seinen Filmen (unter anderem „Memories of Murder, 2003, und „The Host“, 2006), greift er auf populäre Genres wie den Monsterfilm oder den Thriller zurück, um von politischen und sozialen Tabuthemen zu erzählen: vom verdrängten Terror der Diktatur, von pervertierter Sexualität oder auch von inzestuöser Mutterliebe wie in seinem neuen Film „The Mother“.

INTERVIEW ANKE LEWEKE

taz: Herr Bong, in „Mother“ erzählen Sie die Geschichte einer Mutter, die mit allen Mitteln versucht, die Unschuld ihres unter Mordverdacht stehenden Sohnes zu beweisen. Ist der Film ein Thriller, ein Psychodrama oder ein Mutter-Monsterfilm?

Bong Joon-ho: Alles auf einmal. Ich versuche aber, die verschiedenen Genreelemente ganz organisch zusammenzusetzen. Zu einem wilden, aber durchdachten Stilmix. Im ersten Moment glaubt sich der Zuschauer in einem tragischen Familiendrama und wird emotional aufgerüttelt. Dann setzt er sich wie die Mutter im Film die Sherlock-Holmes-Mütze auf und fragt sich, wer der Mörder ist. Dabei versuche ich, die Grenzen des jeweiligen Genres immer weiter zu überspannen, so dass sich der Film irgendwann jeder Einordnung entzieht. Ich nehme also das Publikum zunächst an die Hand. Aber es gibt immer einen Punkt, an dem die Formelhaftigkeit des Genres nicht mehr greift. Das führt zu einer Irritation und Verunsicherung. Der Zuschauer wird auf sich selbst zurückgeworfen und kann sich nicht mehr auf die Mechanik eines einzigen Genres verlassen.

Und er sieht sich mit recht angeschlagenen, traumatisierten Helden und Heldinnen konfrontiert. Das sind alles andere als klassische Kino-Identifikationsfiguren.

Ich mag solche seltsamen Figuren und skurrilen Gestalten. Anders als der klassisches Kinoheld, müssen sie nicht über sich hinaus wachsen. Und ich stelle mich sehr gerne auf die Seite von Menschen, die als Außenseiter gelten, die nicht sonderlich akzeptiert sind. Ich nehme ihre Perspektive ein, deshalb ist auch der Zuschauer aufgefordert, sich in ihre Situation zu begeben. In „The Host“ war es eine dysfunktionale Familie, die den Kampf gegen ein Monster, ein riesiges Reptil, aufnimmt, das Seoul terrorisiert. In „Mother“ überschreitet der Zuschauer mit der Mutter permanent Grenzen: gesetzliche und moralische, um die Unschuld des Sohnes zu beweisen.

Brauchen Sie diese extremen Gestalten, um von einem extremen Land zu erzählen?

Auf jeden Fall will ich auf gesellschaftliche Phänomene hinweisen, die bei uns ansonsten kaum thematisiert werden. Bei ihrer detektivischen Tätigkeit trifft die Mutter auf immer neue Abgründe. Auf Schulmädchen, die sich prostituieren. Auf ältere Männer, die sich zu diesen Mädchen in Schuluniformen besonders hingezogen fühlen. Auf junge Menschen, für die Sexualität und Liebe fast nur noch in kapitalistischen Kategorien erfahrbar sind. Auch gibt es für die Mutter kein soziales Netz, das sie auffängt. Weil sie sich keinen Anwalt leisten kann, muss sie fast zwangsläufig auf eigene Faust arbeiten und gerät dabei wiederum mit dem Gesetz in Konflikt. So ergibt sich fast automatisch ein Panorama der koreanischen Gesellschaft.

In Ihrem Film hat das Verhältnis von Mutter und Sohn eine inzestuöse Seite. Ist das ein Tabuthema in Korea?

Der Körperkontakt zwischen Mutter und Sohn ist in Korea nicht sonderlich tabuisiert. Es gibt da womöglich eine andere intime Selbstverständlichkeit als in Europa. Auch wird der Inzest nicht explizit gezeigt. Gut, man sieht, dass sich Mutter und Sohn ein Bett teilen. Dass es zu Berührungen kommt. Doch wollte ich, dass alles im Nebel bleibt. Nur so kann man Fragen aufwerfen, Spannung aufbauen. Letztlich bleibt es also dem Zuschauer überlassen, die extreme Beziehung zwischen Mutter und Sohn selbst zu interpretieren. Vielleicht sind sich die beiden gar nicht darüber im Klaren, in welchem Verhältnis sie eigentlich zueinander stehen. Der Mordfall ist wie ein Prüfstand für ihr bisheriges Dasein. Dabei wird die Mutter mit der Sexualität ihres Sohnes, aber auch mit der Sexualität anderer Jugendlicher konfrontiert. Häufig haben Mutterfiguren in Filmen etwas Asexuelles. Sie werden von der Sexualität quasi ausgesperrt. Indirekt kommt die Mutter in meinem Film aber wieder mit dieser Sphäre in Berührung, wenn auch in extreme Weise.

Schon der Anfang von „Mother“ führt in die Extreme ein: ein Unfall, eine Fahrerflucht, Blut, eine Racheaktion, eine hysterische Mutter.

Ich brauchte zu Beginn eine solche Situation, weil ich die besonderen Eigenarten der Charaktere verdeutlichen wollte: die überängstliche Mutter und ihre besitzergreifende Liebe. Die Begriffsstutzigkeit und Hilflosigkeit des Sohnes. Die Wut und Brutalität seines Freundes. Gleichzeitig konnte ich durch die Fahrerflucht die sozialen Unterschiede einführen, die in Korea herrschen: Die Mercedes-Besitzer, die denken, dass sie mit einer Fahrerflucht davonkommen. Die Ohnmacht der weniger Privilegierten. Die sehr umständlich arbeitende Polizei. Nach dem Unfall mit der Fahrerflucht bekommt man als Zuschauer direkt ein Gefühl für die Stimmung in dem kleinen koreanischen Provinzstädtchen, aber auch für die Gemütszustände der Helden und Heldinnen.

In „Mother“ wird auch auf extreme Weise getrunken. In einer sehr irritierenden Szene sieht man einen Anwalt, der ein Whiskyglas im Bier versenkt, und die Mutter auffordert, es auf Ex zu trinken.

Salopp gesagt, gibt man sich in Korea gerne die Kugel. Wir sind ein trinkfreudiges Volk, wie die Polen oder die Iren. Und es muss schnell gehen. Bei der Arbeit muss man den ganzen Tag funktionieren, die Hierarchien einhalten, die Emotionen zurücknehmen. Nach Dienstschluss will man dann den ganzen Dampf ablassen. Dazu eignet sich dieser Drink, der deshalb auch Bomb-Drink heißt, besonders gut. Die Trinkgelage in meinen Filmen sind wirklich nicht übertrieben, sie kommen eins zu eins aus der Wirklichkeit. Auch das für westliche Betrachter vielleicht ungewöhnliche Benehmen der Trinker gehört zur Tagesordnung. Etwa die betrunkenen Männer, die in Restaurants immer einschlafen.

Kim Hye-ja, die Darstellerin der Mutter, ist in der koreanischen Kino- und Fernsehlandschaft eine Art Mutter der Nation. War es schwer, sie für diese Rolle zu gewinnen?

Ich hatte erst Bedenken, Kim Hye-ja überhaupt zu fragen. Aber sie sagte direkt zu. Weil sie genug von diesen ganzen mütterlichen Mutterrollen hatte. Für sie war es eine Herausforderung, die monströse Seite einer Mutterliebe zu zeigen. In der Fernsehserie hat sie immer eine sehr warmherzige Ausstrahlung, jetzt konnte sie andere Facetten zeigen. Etwa die eiskalte Wut, die ihr Gesicht hart erscheinen lässt. Sie schreckte auch vor der Szene mit dem Blutbad nicht zurück. Sie wollte sogar immer mehr Blut ins Gesicht geschminkt bekommen!

In dem Film „The Host“ spuckt das Monster die Leichen der koreanischen Diktaturjahre aus. In „Mother“ setzt die Mutter Akupunkturnadeln, um die bösen Erinnerungen zu verdrängen. Was sind das für gegensätzliche Bewegungen?

Es ist für mich schwierig, auf diese Frage eine präzise Antwort zu geben. Wenn man sich die jüngste Geschichte Koreas anschaut, dann sieht man, dass die Moderne, der Turbokapitalismus, nur so schnell Einzug halten konnten, weil andere Ereignisse verdrängt wurden. Die japanische Besatzung, die Militärregierung. Das waren Zeiten, die viele Opfer und Wunden mit sich brachten. Diese Wunden lasse ich in „The Host“ aufplatzen. Dabei kommen die Trauer und Verzweiflung mit aller Gewalt zum Vorschein. Während in „The Host“ das Monster die Leichen im Keller unseres Landes ans Tageslicht bringt, müssen sich in „Mother“ zwei Menschen ihrer privaten Geschichte stellen. Da kommt man mit Akupunktur aber letztlich nicht weiter.