: Darum verlassen wir Polen
Irgendwann wollte sie die Briefe nicht mehr öffnen, die ihre Mutter ihr auf den Küchentisch gelegt hatte. Warum auch, es waren ja doch nur Absagen. Etliche Bewerbungen hat Monika Młynarska* geschrieben, sogar Vorstellungsgespräche und Einstellungstests hinter sich gebracht, und dennoch klappte es nie: Trotz ihres guten Diploms in Elektrotechnik fand die 27-Jährige aus dem polnischen Wrocław einfach keine Stelle als Programmiererin.
Fast zwei Jahre ist das her. Wenn Monika davon erzählt, klingt sie noch immer beschämt. „Ich war so frustriert“, gesteht sie, „mit jeder gescheiterten Bewerbung habe ich mehr meine Hoffnung verloren, dass ich einen Job finden würde.“
Mit dieser Erfahrung ist Monika nicht allein. Es fehlt an Arbeit in Polen. Auch wenn die Erwerbslosenquote langsam sinkt, ist sie mit 17 Prozent die höchste innerhalb der Europäischen Union. Hart trifft es besonders Berufseinsteiger wie Monika: Die Hälfte aller Arbeitslosen sind zwischen 15 und 34 Jahre alt. Selbst qualifizierte Arbeitskräfte suchen verzweifelt nach einer Stelle, finden aber häufig keine oder nur schlecht bezahlte Jobs. Wer jung, gut ausgebildet und motiviert ist, hat kaum eine andere Chance, als wegzugehen.
Monika hatte nach rund einem Jahr erfolgloser Suche genug. Im vergangenen Herbst entschied sie sich auszuwandern – wie viele ihrer Landsleute in den letzten zwei Jahren, seit Polens EU-Beitritt. Zwei Millionen sollen das Land schon verlassen haben, schätzen Warschauer Migrationsforscher.
„Ich wollte einfach einen Job“, sagt Monika. „Kellnern oder Babysitting – egal. Ich brauchte etwas, womit ich Geld verdienen konnte.“ Sie packte zwei Koffer und kaufte sich ein Flugticket nach Manchester, dort hatte sie polnische Freunde.
Am ersten Tag meldete sie sich in der Arbeitsagentur. Weil Osteuropäer in Großbritannien keinerlei Arbeitsbeschränkungen unterliegen, fand Monika schon kurze Zeit später ihre erste Stelle als Kellnerin in einem Restaurant. Wenige Wochen später wechselte sie als Aushilfe in eine Druckerei, dann arbeitete sie in der Damenabteilung eines Kaufhauses.
Regale auffüllen, Kundinnen bedienen, kassieren – die Arbeit war nicht schwer. 160 Pfund (230 Euro) verdiente sie pro Woche. Nicht viel, aber mehr als viele in Polen verdienen. Und genug, um etwas zu sparen. Monika hätte zufrieden sein können. Doch sie fühlte sich fremd in Manchester. Trotz der vielen Landsleute, die sie morgens im Bus traf. Trotz der Freunde, mit denen sie die Wohnung teilte. Monika vermisste Polen. Eines Tages bei der Arbeit, sie legte gerade einen Pullover zusammen, hielt sie inne und dachte: „Was tue ich bloß hier?“ Monika machte Schluss mit den Gelegenheitsjobs. „Ich wollte nicht länger meine Zeit verschwenden“, sagt sie.
Vor wenigen Wochen ist Monika nach Polen zurückgekehrt. Sie will es noch einmal probieren, dort ihren Traumjob im IT-Bereich zu finden. Wenn es diesmal nicht gelingt, wird sie wohl wieder gehen. Es gibt schließlich immer noch England.
Es nervte ihn: alte Computer, kaum Overheadprojektoren, die schlecht ausgestattete Bibliothek. Krzysztof Rosinski* studierte mehrere Semester Wirtschaftssprachen im südpolnischen Sosnowiec und ärgerte sich über die überfüllten Vorlesungen und die Seminarräume, von deren Decke der Putz rieselte. Der 24-Jährige brach sein Studium ab. Eine bewusste Entscheidung gegen das polnische Bildungssystem: „Die Lehrinhalte orientierten sich kaum an den Realitäten des Arbeitsmarktes“, kritisiert er. Krzysztof wollte so nicht studieren. Er wollte weg. „Mit einem deutschen Diplom habe ich bessere Chancen“, da ist er sich sicher. Krzysztof bewarb sich beim Hochschulinstitut in Zittau und wurde genommen.
Doch selbst aus dieser Distanz zum Heimatland lässt es ihm keine Ruhe, was dort passiert. Oder auch nicht passiert. Die Regierung investiere zu wenig in Bildung und Infrastruktur, findet er. „So kommt das Land doch nie vorwärts.“
Tatsächlich blieb für solche dringend benötigten Investitionen bislang nicht viel Geld. Denn ein Großteil des polnischen Haushalts fließt in die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Die Regierung in Warschau unterhält nämlich heute neben den Arbeitslosen auch ein Heer von Invalidenrentnern und Frühpensionären. Hunderttausende Menschen waren in den Neunzigerjahren aus unproduktiven Jobs in die Obhut des Staates abgeschoben worden. Mit den arbeitsmarktpolitischen Konsequenzen hat Polen heute zu kämpfen.
Aber nicht nur darüber schüttelt Krzysztof den Kopf, auch über die Art, wie sich der Präsident im Ausland präsentiert. „Das ist mir als Pole einfach peinlich“, sagt er. Lech Kaczyńskis jüngste Reaktionen auf eine taz-Satire empfindet er als „Realsatire“. Er hofft, dass aus dieser Geschichte kein allzu großer Imageschaden für sein Land entsteht.
Der Widerstand, der sich an Universitäten und Schulen vor einigen Wochen erstmals gegen die Regierung regte, freut ihn deshalb. In Warschau waren Anfang Juni einige tausend Studenten gegen Bildungsminister Roman Giertych auf die Straße gegangen, der als rechtsextrem und nationalistisch gilt. Auch unter Intellektuellen und Lehrern regte sich Widerstand, als Giertych vorschlug, Patriotismusunterricht an den Schulen einzuführen. „Es denken eben nicht alle so wie die Regierung“, sagt Krzysztof und lächelt.
Seine Zukunft sieht er trotzdem nicht in Polen. Vorerst. Nicht dass er dort nicht gern einen Job hätte, doch viel Hoffnung, einen zu finden, hat er nicht: „Bei den Arbeitslosenzahlen? Aussichtslos“, sagt er. Dann lieber in Deutschland bleiben.
Im Moment absolviert er im Rahmen seines Studiums ein halbjähriges Praktikum bei einer Unternehmensberatung in Köln. Die Arbeit gefällt im gut. Nach dem Abschluss würde er gern in Deutschland einige Jahre arbeiten, dann vielleicht zurück nach Polen gehen.
So wie sein älterer Bruder, der sein Geld in den Niederlanden als IT-Manager verdiente. „Vielleicht suche ich mir aber auch einen Job in Österreich oder in der Schweiz“, überlegt Krzysztof, „dort würde es mir auch gefallen“. Hauptsache Ausland.
Katarzyna Razek* ist keine, die Zeit verschwendet: Rasch taucht die schmale junge Frau den Mopp in den Eimer und wischt den gefliesten Küchenboden. Die 23-Jährige muss sich beeilen, schließlich wird sie nur für drei Stunden bezahlt, und es müssen noch die Betten gemacht, das Wohnzimmer gesaugt und das Bad gereinigt werden.
Einmal wöchentlich sorgt die Germanistikstudentin bei einer Berliner Familie für Ordnung. Sieben Euro bekommt sie dafür pro Stunde. An anderen Tagen hilft sie in einem Büro aus, jobbt als Hostess auf Messen und versucht nebenbei ihre Magisterarbeit zu beenden. Zusammen mit einem Stipendium bekommt sie etwa 350 Euro im Monat zusammen. Das ist nicht viel, aber immer noch mehr, als sie zu Hause verdienen würde. Katarzynas Zuhause liegt in Częstochowa.
Mit dem europäischen Studentenaustauschprogramm Erasmus kam sie vor einem Jahr nach Berlin, und nach ihren Abschlussprüfungen im Herbst möchte sie bleiben. Am liebsten für länger. Das wird zwar nicht leicht, denn trotz des Beitritts von Polen zur Europäischen Union ist der deutsche Arbeitsmarkt für Zuwanderer aus dem Osten beschränkt. Noch bis 2009, vielleicht sogar bis 2011 brauchen osteuropäische Arbeitskräfte eine Arbeitsgenehmigung. Doch für Katarzyna stehen die Chancen nicht schlecht: Gerade hat sie sich bei einer Softwarefirma in Leipzig beworben, die dringend eine polnische Muttersprachlerin für Übersetzungen braucht. In diesem Fall dürfte das Unternehmen sie deutschen Bewerbern vorziehen. Es sieht so aus, als könne sich Katarzynas Traum erfüllen: „Ich wollte schon immer weg von zu Hause“, erzählt sie, „am liebsten in eine große Stadt oder ins Ausland.“
Nach dem Schulabschluss blieb Katarzyna jedoch erst einmal, wo sie war: in Częstochowa. Sie begann zu studieren und wohnte bei ihren Eltern. In Berlin lebt Katarzyna nun im Wohnheim. Das kleine Zimmer bedeutet für sie die große Freiheit: „Hier habe ich erstmals überhaupt ein Zimmer für mich“, erzählt sie, „zu Hause musste ich eins mit meiner kleinen Schwester teilen.“ Katarzyna fühlt sich wohl in Deutschland. Mehr noch: Hier kann sie endlich das anwenden, was sie jahrelang gebüffelt hat: deutsche Grammatik.
Ihre Eltern wollten zunächst gar nicht einsehen, warum es ihre Tochter ins Ausland zog. Auch die Sorge, keinen Arbeitsplatz zu finden, ließen sie nicht gelten: „Wieso? Vater sucht dir eine Stelle!“, hieß es dann. Katarzyna stöhnt beim Gedanken daran: „Schrecklich. Diese Einstellung ist in Polen weit verbreitet.“ Doch sie wollte sich lieber auf sich als auf Beziehungen verlassen. Und überhaupt, was konnte das für eine Arbeit sein? Während ihres Studiums hatte sie immer wieder nach Jobs gesucht, um sich das Studium zu finanzieren: Sie hat Nachhilfe gegeben und sogar ein Jahr lang als Grundschullehrerin gearbeitet. Doch den gewünschten Job als Übersetzerin fand sie nicht. Dass das nun anders sein soll, kann sich Katarzyna nicht vorstellen.
Sie hat sich entschieden. Zurück nach Polen möchte sie nicht: „Ich habe dort keine Zukunft“, sagt sie bestimmt.* Alle Namen sind geändert