Von Tangoklängen durchtränkt

„Man muss mich nicht lieben“ von Stéphane Brizé

„Achten Sie auf die Dame!“, lautet die erste und wichtigste Anweisung des Tanzlehrers in einem Tangokurs, und weil der 50-jährige Jean-Claude dies bisher in seinem Leben augenscheinlich noch nie getan hat, entwickelt sich der Tangolehrgang für ihn auch in eine Schule des Lebens. Einen leidenschaftsloseren Protagonisten als ihn kann man sich kaum vorstellen. Und durch seinen Beruf wächst er dem Publikum auch nicht gerade ans Herz, denn der hagere Trauerkloß ist Gerichtsvollzieher. Gleich in der ersten Szene sehen wir ihm dabei zu, wie er einer verzweifelten und hilflosen Frau ungerührt den Räumungsbefehl für ihre Wohnung zustellt. In seiner Kanzlei arbeitet er wie ein Automat, und nur wenn abends in den Räumen gegenüber der Tangokurs stattfindet, probiert er zögerlich und mit einer rührenden Ernsthaftigkeit ein paar Tanzschritte auf dem Parkettboden seines Büros aus. Sein Hausarzt sorgt sich um seine Herz und rät ihm zu mehr Bewegung. Deshalb nimmt er bald nicht nur als Zaungast an den Lehrstunden teil, zu denen auch Francoise kommt, die Jean-Claude als Sohn ihres ehemaligen Kindermädchens wiedererkennt. Diese will nur ein paar Tanzschritte lernen, damit sie auf ihrer Hochzeit beim ersten Tanz eine gute Figur abgibt. Eigentlich sollte auch ihr Verlobter mittanzen, aber der hat immer wichtigeres zu tun, und so versäumt er die Worte des Tanzlehrers und achtet nicht auf seine Dame – mit dramatischen Konsequenzen.

Ja, „Man muss mich nicht lieben“ ist eine Romanze und dazu noch bis zum Sättigungspunkt mit Tangoklängen durchtränkt, aus denen die Leidenschaft manchmal ein wenig zu offensichtlich tropft. Aber es gehört zu den Qualitäten des Films, dass der Regisseur Stéphane Brizé dies selbst gemerkt hat und deshalb kleine ironische Widerhaken eingesetzt hat. So etwa wenn jenes Parfüm, das Jean-Claude Francoise schenken möchte, „Flammende Leidenschaft“ heißt, und er vor diesem hitzigen Namen zurückschreckt. Zudem soll der Tango ja nicht nur das Publikum, sondern auch die Filmfiguren verführen, die ihn als Utopie und die Verheißung eines ausgefüllteren Lebens verstehen. So nimmt sich der Film viel Zeit dafür, sehr sorgfältig und detailreich das alltägliche Leben seiner Figuren zu zeigen. Wann der hässliche Hund der Sekretärin bellt, wie viele Topfpflanzen im Büro von Jean-Claudes Sozius stehen und wie oft der Verlobte von Francoise zu ihr hinblickt? All das ist schön beobachtet und macht den Film immer interessant.

Allein schon, weil ihm die knifflige Aufgabe gelungen ist, das Langweilige endlich einmal nicht langweilig darzustellen, ist der Film von Brizé sehenswert. Er übertreibt es auch nicht mit der Melancholie: der aufkommende Weltschmerz wird hier immer durch subtilen Witz und eine erstaunlich komplexe Figurenzeichnung selbst bei den Nebenfiguren in Schach gehalten. Auch der unglückliche Juniorpartner von Jean-Claude und dessen Sekretärin bekommen ihre großen Auftritte, in denen ihre Charaktere dramaturgisch geschickt auf den Punkt gebracht werden, und in einem Erzählstrang kommt mehr Leidenschaft zu Ausbruch als in der zärtlich keimenden Liebesgeschichte. Einmal wöchentlich besucht Jean-Claude seinen verbitterten Vater im Altersheim, wo die beiden sich nur feindselig anstarren oder streiten. Wenn man den Vater sieht, versteht man den Sohn und erkennt, in was für eine Charaktermaske er droht, sich zu entwickeln. Ihr Verhältnis zueinander ist eine wunderbar beobachtete und gespielte Beziehungsstudie, gegen die das unausweichliche „Kriegen sie sich?“ des letzten Akts zu verblassen droht, und so besteht der berührendste Moment des Films schlicht darin, dass Jean-Claude im Zimmer seines Vaters eine Schranktür öffnet.

Wilfried Hippen