: Der Kalif zum Reden
MIGRATION Kazim Erdogan ist ein Rettungsanker für türkischstämmige Männer. Sein Psychosozialer Dienst in Neukölln betreut Verlassene
VON ISABELLA KROTH
Er selbst nennt sich ironisch den „Kalifen von Neukölln“, das Oberhaupt der islamischen Gemeinde im Stadtteil. Auf seinem Schreibtisch steht ein hölzernes Namensschild mit zwei kleinen Flaggen – der deutschen und der türkischen. Kazim Erdogans Ziel ist es, das Miteinander von Türken und Deutschen zu verbessern. Das Refugium des Psychologen ist der Psychosoziale Dienst Neukölln. Mitten im Problemkiez hat der Psychologe eine Selbsthilfegruppe für türkischstämmige Männer gegründet, die jeden Montagabend tagt.
Es kommen Männer, über die pauschale Vorurteile kursieren. Etwa das des türkischen Paschas, der seine Frau schlägt und seine Ehre bis aufs Blut verteidigt, den Gebetskranz immer bei der Hand. Tatsächlich aber sind Erdogans Klienten Männer, die zwischen die Mühlsteine der unterschiedlichen Kulturen geraten sind. Die sich verloren und missverstanden fühlen in Deutschland. Und die manchmal auch zu Opfern patriarchaler Strukturen werden.
Zum Beispiel Adem. In der Ehe mit seiner Cousine galt ein ungeschriebenes Gesetz: Er musste die Großfamilie versorgen, inklusive Onkel und Cousins. Als er aufhörte zu zahlen, trennte sich seine Frau von ihm. In ihren Augen hatte Adem seine Pflicht als Ehemann verletzt. Ein erbitterter Streit begann, bei dem die Cousine Adem dort traf, wo es ihn am meisten schmerzte – bei seiner Ehre als Mann. Adem sagt: „Ohne Kazim Erdogan hätte ich meine Frau vielleicht getötet.“ Der Psychologe hatte Adem erklärt, dass er seine Ehre anders als durch Gewalt auch durch das deutsche Rechtssystem wiederherstellen könne. „Wir können miteinander offen über Probleme reden“, sagt einer aus der Gruppe. „Wir sind wie eine Familie.“
Offen reden – das ist entscheidend für eine gelungene Integrationspolitik, glaubt Erdogan. In den 36 Jahren, die er in Berlin lebt, hat er vieles beobachtet. In Neukölln sah er Mütter im türkischen Großmarkt, die ihren Kindern entnervt Befehle erteilten, ihnen aber nichts erklärten. Männer, die ein paar Meter vor ihren mit Einkaufstüten bepackten Frauen liefen. Er erschrak, wenn er hörte, wie schlecht manche Kinder Deutsch sprachen, obwohl sie hier geboren wurden.
Erdogan gründete 2008 den Verein Aufbruch Neukölln. Der zweifache Familienvater betreut ehrenamtlich neben seiner Arbeit im Psychosozialen Dienst zwölf Projekte. Die Männergruppe ist das ungewöhnlichste davon. Denn die Scham der Betroffenen ist groß: „Viele Themen tabuisiert die türkisch-muslimische Gesellschaft“, sagt der Psychologe. „Ein türkischer Mann, dessen Frau sich von ihm scheiden lässt, gilt als Versager. Wer zugibt, sich allein zu fühlen, wird als Schwächling bezeichnet.“
Sehnsucht nach der Weite
Erdogan ist gelungen, woran viele andere scheitern. Er hat das Vertrauen und die Herzen der Männer einer viel beschworenen „Parallelgesellschaft“ erobert. Die Männer sehen zu ihm auf, auch wenn er nicht der Älteste in der Runde ist. Für sie ist er ein Lebensberater. Der Schlüssel zu einer Gesellschaft, von der sie das Gefühl haben, dass sie ihnen verschlossen bleibt. Sie nennen ihn Kazim-Abi, Kazim, den älteren Bruder. Der Psychologe ist einer von ihnen.
Tatsächlich hat Erdogan viel gemeinsam mit denen, die zu ihm kommen und Rat suchen. Er kennt die anatolische Weite, der viele der Älteren nachtrauern. Er selbst stammt aus dem kleinen Dorf Gökceharman in Zentralanatolien. Die Erdogans lebten in einem einfachen Lehmhaus mit Flachdach, durch das bei Regen Wasser durchsickerte. Die Großfamilie teilte sich Weizengrütze aus großen Schüsseln. „Wenn siebzehn Löffel den Topf auskratzten, war das wie Musik“, sagt Erdogan. Der Vater, selbst Analphabet, setzte auf Bildung, als die Abwanderung nach Deutschland begann. Er sah, dass mit seinen Weizenfeldern kein Staat mehr zu machen war. Für seinen Sohn wünschte er sich ein Studium. Die Hoffnung war dabei der Onkel in Berlin. Zu ihm reiste Erdogan.
Scham im fremden Land
Der Neuankömmling meldete sich bei der Universität, dann stand er am Fließband und sortierte im Akkord Margarinebehälter, schlug sich als Wärter die Nacht um die Ohren. Er war ein verspäteter türkischer „Gastarbeiter“. Eigentlich hätte er nach drei Monaten wieder ausreisen müssen.
Sieben Monate nach seiner Ankunft geriet Erdogan in eine Routinekontrolle der Zivilpolizei. „Es hieß: ‚Den Ausweis bitte!‘ Ich stammelte: ‚Pass Hause‘ – ich fühlte Scham hoch drei“, erinnert er sich. Am selben Abend saß er in Abschiebehaft – zwischen 40 oder 50 Mithäftlingen, die wie er auf der Straße eingesammelt worden waren. Der 21-Jährige aber hatte Glück. Er konnte seine Immatrikulierung nachweisen und hatte damit Aussicht auf eine Aufenthaltserlaubnis. Heute sagt er: „Ich weiß, wie es sich anfühlt, Angst in einem fremden Land zu haben. Deshalb kann ich die Männer, die zu mir kommen, gut verstehen.“
Vielleicht hatte Erdogan mehr Hartnäckigkeit als die Männer, die heute bei ihm Rat suchen, vielleicht mehr Glück. Nach dem Psychologiestudium arbeitete er erst als Lehrer, brachte Migrantenkindern Deutsch bei. 2003 ging er zum Psychosozialen Dienst Neukölln, zurück in den Stadtteil, wo er sein Leben in Deutschland begonnen hatte. Dort erkannte Erdogan, wie groß die Probleme gerade türkischstämmiger Männer waren. Er bemerkte die Verwirrung der „Importbräutigame“, die ohne Sprachkenntnisse und Job wenig zu sagen hatten. Erdogan wusste von der Not derer, die von ihren Eltern zur Ehe gedrängt wurden oder die sich nicht trauen, sich zu ihrer Homosexualität zu bekennen. Er erkannte auch, wie viele Männer darunter litten, die Rolle als Ernährer nicht mehr ausfüllen zu können. Es fiel ihnen schwer, das neue Selbstbewusstsein ihrer Frauen zu akzeptieren. Manche wurden gewalttätig, weil sie keine Worte fanden.
Erdogan gründete die erste Selbsthilfegruppe für türkischstämmige Männer in Deutschland. Und konnte sich bald vor der Nachfrage kaum retten. Jeden Montag wurde der Gesprächskreis größer. „Jeder kannte einen, den er mitbringen wollte.“
Inzwischen kommen 45 Männer. Alle tragen die Botschaften weiter, die sie in Erdogans Dienstzimmer lernen. Aus dem einstigen „Versager“, der in Deutschland vor der Abschiebung stand, ist ein Vorkämpfer geworden, der Integration von unten vorantreibt.
■ Isabella Kroth porträtiert in „Halbmondwahrheiten. Türkische Männer in Deutschland – Innenansichten einer geschlossenen Gesellschaft“ u. a. Kazim Erdogan. Das Buch erscheint am 9. 8. im Diederichs Verlag; 224 S. 16,95 Euro