LESERINNENBRIEFE :
Seelenloser Tunnelbahnhof
■ betr.: „Der endlose Streit um ein Schienenprojekt“, taz vom 5. 8. 10
Dieses Wahnsinns-Bahnhof-Projekt wird ein Milliardengrab werden. Die Kosten werden am Ende nicht 4,5 Milliarden betragen, sondern doppelt so hoch sein, und das alles wegen ein paar Minuten Zeitgewinn. Schon heute sind gut 90 Prozent der eingesetzten Züge „Wendezüge“, die in den Kopfbahnhof hineinfahren und nach kurzem Aufenthalt wieder hinausfahren können. Das Flair, das dieser Stuttgarter Kopfbahnhof dem ankommenden Fahrgast bietet und auch zum Verweilen auffordert, wird durch einen seelenlosen Tunnelbahnhof ersetzt werden. Zudem wird ein nur achtgleisiger Durchgangsbahnhof bei Betriebsstörungen zu wenig Reserven bieten.
Mit den Milliarden für „Stuttgart 21“ könnte man im Südwesten sämtliche Bahnstrecken, für die in den letzten Jahrzehnten rein gar nichts getan wurde, instandsetzen und modernisieren. So könnte die Strecke Rottweil–Neustadt elektrifiziert und begradigt werden. Die Strecken Immendingen–Ulm, die Bodenseegürtelbahn und Friedrichshafen–Ulm könnten elektrisch ausgebaut werden. Und auch die Gäubahn könnte ihr zweites Gleis wiederbekommen. Damit wäre ein vernünftiger Bahnverkehr ohne Störungen auf dieser Strecke möglich. Man könnte sogar zukunftweisend die Strecke Rottweil–Balingen reaktivieren, wofür es ja schon für den abgebauten Abschnitt Rottweil–Schömberg eine Projektstudie über Neukirch gibt. Dann wären auch nach Balingen vernünftige Fahrzeiten von 25 bis 30 Minuten möglich. Und dann wäre noch jede Menge Geld übrig, welches man für die Neubaustrecke Stuttgart–Ulm verwenden könnte, die ja niemand in Frage stellt.
Wenn die Bevölkerung von Baden-Württemberg über „Stuttgart 21“ abstimmen dürfte, wäre dieses Projekt schlagartig beendet.PETER RUTHENKOLK, Rottweil
Übrig bleibt ein funktionsloser Torso
■ betr.: „Der endlose Streit um ein Schienenprojekt“, taz vom 5. 8. 10
Ingo Arzt schreibt sehr richtig von der Wut der „S 21“-Gegner und einer Art Volksaufstand, der zu immer mehr Teilnehmern bei den regelmäßigen Demonstrationen vor dem Bahnhof führt. Es gibt zwei mit ganz viel Emotionen behaftete Punkte, die das verständlich machen: Da ist einmal der denkmalgeschützte Kopfbahnhof, der auch international als bedeutend eingestuft wird, und der Parkabschnitt im mittleren Schlossgarten, an dessen Stelle der Tiefbahnhof als ein mehr als fünf Meter hoher Buckel mit gläsernen Warzen den Durchgang versperrt. Vom Kopfbahnhof sollen die zwei Seitenflügel abgerissen werden und die Bahnhofshalle mit dem Turm als funktionsloser Torso stehenbleiben. Das ist für eine Stadt mit geringer historischer Bausubstanz ein Schlag ins Gesicht. Der Parkabschnitt, der durch den Tiefbahnhof verschwindet, ist der am meisten und stärksten benutzte Parkabschnitt der Schlossgartenanlagen, auch wegen seiner Nähe zum Zentrum. Die 282 alten Bäume, die dem Tiefbahnhof weichen müssen, könnten in ihrer Wirkung für das Mikroklima im Talkessel nur durch tausende von neu zu pflanzenden Bäumen ersetzt werden. Bloß wo sollte man diese pflanzen? In Baden-Württemberg gäbe es andere Infrastrukturmaßnahmen der Bahn, die mit viel größerem Gewinn realisiert werden könnten, wie den Ausbau der Rheintalstrecke für die ökogisch sinnvolle Ausweitung der Gütertransporte mit der Bahn nach Italien, Frankreich und Spanien. REINHARD BOUCHÉ, Stuttgart
Verschlechterung für Behinderte
■ betr.: „Der endlose Streit um ein Schienenprojekt“, taz vom 5. 8. 10
Es geht in diesem Fall nicht nur um die Schiene, sondern auch um die sich verschlechternde Nutzung des Bahnhofs für Ältere und Behinderte (derzeitig Zugang und Bahnsteige ebenerdig, in Zukunft über Aufzug und Rolltreppe). Des Weiteren wird unser kühlender Park in der Innenstadt abgeholzt, und und und … DORIS STEIDLE, Stuttgart
Von Mossadegh zu Chávez
■ betr.: „Wir selbst sind unsere größten Feinde“, Interview, taz vom 4. 8. 10
Zu gerne möchte man der Bestsellerautorin Azar Nafisi zustimmen und sich im Bunde mit allen guten Geistern auf die westliche Brust klopfen. Dann stolpert man über manche Peinlichkeit. Wieso nennt Nafisi Hugo Chávez in einem Atemzug mit Massenmördern wie Hitler und Stalin? Ich würde einen Hoffnungsträger wie Hugo Chávez eher in eine Reihe mit Reformern wie dem Mossadegh stellen, der als iranischer Ministerpräsident ja bekanntlich 1953 wegen der Verstaatlichung des Erdöls von anglo-amerikanischen Geheimdiensten gestürzt wurde. Ihr Wort fände viel mehr Gehör, wenn sie auch die hunderttausenden von Opfern der US-Kriege im Irak und Afghanistan erwähnen würde oder die Opfer der Globalisierung, wie das etwa bei großen Frauen wie Arundhati Roy oder Vandana Shiva der Fall ist. MARC HEINECKE, Hannover