: Erdogan ist groß
WAHLKAMPF 5.000 Menschen jubeln dem türkischen Premier in Berlin zu, während der sich die Realität zurechtbiegt. Bald hat er die Stimmen der Auslandstürken bitter nötig
■ Etwa 3 Millionen Menschen in Deutschland sind türkischer Herkunft – so viel wie in keinem anderen Land Europas. Zwei Drittel von ihnen besitzen die türkische Staatsbürgerschaft. Auf bis zu eineinhalb Millionen schätzt die Türkische Gemeinde in Deutschland die Zahl derer, die in der Türkei wahlberechtigt sind. ■ Im August, wenn sich Premierminister Recep Tayyip Erdogan zum Präsidenten wählen lassen will, sollen sie erstmals von Deutschland aus mitwählen dürfen. Mit dem Wahlrecht im Ausland erfüllt Erdogan einen alten Wunsch vieler Deutschtürken. Die mussten bisher in die Türkei reisen, um ihre Stimme abzugeben. Im Sommer sollen nun auch in sieben deutschen Bundesländern Wahlurnen stehen. Deutschland steht ein heißer türkischer Wahlkampf bevor. (taz)
VON FATMA AYDEMIR
BERLIN taz | Selbst in Berlin-Kreuzberg hat man selten so viele Kopftücher beisammen gesehen. Shuttle-Busse aus Stuttgart und München rollen an. Junge Frauen versuchen, sich ohne Ticket reinzuschmuggeln. Ein aufgeregter Mann prahlt mit Bildern, die er eben mit ein paar AKP-Abgeordneten gemacht hat. Das Berliner Tempodrom ist am Dienstagabend mit 5.000 Gästen ausverkauft. Hinter den Absperrungen stehen noch Dutzende, die nicht reingelassen werden. Sie alle wollen einen Mann sehen: den türkischen Premierministers Recep Tayyip Erdogan.
Im Sommer will der seit 2003 amtierende islamisch-konservative Regierungschef sich zum Staatsoberhaupt wählen lassen. Und erstmals dürfen bei den Präsidentschaftswahlen in diesem Sommer auch türkische Staatsbürger im Ausland wählen.
Nach dem Korruptionsskandal Ende 2013, bei dem mehreren Regierungsmitgliedern die Annahme von Schmiergeldzahlungen in Millionenhöhe vorgeworfen wurde, hat Erdogan in seiner Heimat an Zustimmung eingebüßt. Auch die wirtschaftliche Lage ist kritisch: Der Wert der türkischen Lira fällt seit Wochen dramatisch.
Höchste Zeit also, neue Wähler zu rekrutieren. Erdogans Rede soll im türkischen TV live ausgestrahlt werden. Ein Einheizer befeuert die Stimmung, Lieder werden gesungen, Parolen gerufen: „Steh stramm, beug dich nicht! Dieses Volk ist mit dir!“ Dann wird das Publikum aufgefordert, die Handylichter anzuschalten.
Ich werde höflich gefragt, ob ich meinen Platz tauschen möchte. Ich willige ein – und stelle anschließend fest, dass ich nun nicht mehr im Männer-, sondern im Frauenblock sitze. „Der arme Mann,“ sagt die Dame neben mir, „er musste so viel erdulden die letzten Jahre. Sie wollen ihn niedermachen, reden schlecht über ihn im Fernsehen. Ich bete jeden Tag für Erdogan.“
Dann kommt er. In Begleitung einer theatralischen E-Gitarrenmelodie und seiner Frau Emine läuft Erdogan winkend über die Bühne. Er hält Rosen in der Hand. Die Frauen kreischen, die Männer rufen „Allahu Akbar“ („Gott ist groß“).
Er habe „Grüße aus der Türkei mitgebracht“, sagt Erdogan. In nostalgischer Manier wendet er sich an die „Gurbetci“, die „Gastarbeiter“, die sich nach der Heimat sehnen. Dann trägt er eine Reihe von Zahlen vor, sie sollen seine bislang elfjährige Amtszeit bilanzieren: die Rekordhöhe des Güterexports, das angestiegene Bruttosozialprodukt, die Kilometerlängen von neu gebauten Autobahnen. Nach jedem Satz pausiert der Präsident, um seinen Applaus zu genießen. Über die stagnierende Konjunktur verliert er kein Wort. So hübscht man die Realität auf.
„Wir müssen heute aus Berlin ein Zeichen senden. An die, die behaupten, wir seien korrupt“, sagt er. Buhrufe erschallen. „Wie haben wir all das, bitteschön, geschafft, wenn wir doch angeblich so korrupt seien?“, fragt Erdogan und spricht vom „Putsch vom 17. Dezember“ – dem Tag, an dem die Korruptionsaffären bei Immobilien- und Öldeals publik wurden. Mehr als 1.000 Polizisten und Staatsanwälte wurden seither zwangsversetzt.
Erdogan benutzt das Wort „Putsch“ mit Bedacht: als Bezug auf das Volkstrauma des Militärputschs von 1980, bei dem über 500 Menschen zum Tode verurteilt wurden. Er kennt die Ängste des einfachen Mannes – und macht sie sich zunutze für seine große One-Man-Show.
„Vaterlandsverräter“ nennt er jene, die seine Politik sabotieren und ihn international bloßstellen würden. Erdogan nennt seine Gegner nicht einzeln beim Namen, er meint sie alle: die Gezi-Demonstranten, die im Korruptionsfall ermittelnden Polizisten und Staatsanwälte, die kemalistische Opposition und nicht zuletzt Prediger Fethullah Gülen, der Erdogan kürzlich wegen Beleidigung anzeigte.
RECEP TAYYIP ERDOGAN
Der Premier sieht die große Verschwörung am Werk und degradiert seine Gegner zugleich zu Unfähigen. „Ihre große Kunst ist die der Verleumdung, weil sie nichts anderes kennen. All das, was wir erreicht haben, davon sind sie nicht einmal imstande zu träumen.“
Bei solchen Worten fühlt sich das Publikum bestärkt in dem Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Es reagiert euphorisch, wenn Erdogan von seinen großen Bauprojekten schwärmt – der dritten Brücke über den Bosporus und dem neuen Flughafen für Istanbul etwa.
Auch für die Aufhebung des Kopftuchverbots an Universitäten und das neue Gesundheitssystem lässt er sich feiern. Immerhin – diese Errungenschaften sind tatsächlich Realität. Doch seinen Kampf gegen den Terror beschönigt Erdogan mit Lügen. Seit einem Jahr habe es keine Tote mehr wegen Terroranschlägen gegeben, sagt er, und ignoriert den Bombenanschlag auf die Stadt Reyhanli an der syrischen Grenze, bei dem im Mai 51 Menschen starben.
Zum Schluss ein Gruß an die Brüder und Schwestern in Palästina, Syrien und vor allem an die ägyptischen Muslimbrüder – und er versinkt förmlich im Jubel der Masse. Der „Diener des Volkes“ verabschiedet sich von den „europäischen Türken“, bis Mai 2014. Dann wird Erdogan in der Kölnarena sprechen.