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Archiv-Artikel

„Ich kann die Hisbollah verstehen“

Vor einem Jahr noch demonstrierte die Christin Asma Andraos hoffnungsvoll für einen politischen Wandel im Libanon. Nun teilt sie die Verzweiflung der jungen Libanesen über den Krieg und fürchtet um den demokratischen Aufbruch

taz: Frau Andraos, noch vor einem Jahr wurden Sie vom US-amerikanischen Time Magazine zu einer Heldin des demokratischen Aufbruchs im Libanon gekürt. Erinnern Sie sich noch daran?

Asma Andraos: Ja. Aber diese Auszeichnung kommt mir vor, als wäre sie 70 Jahre her. Binnen weniger Tage hat sich hier alles geändert. Nun versuchen wir hier, all den Flüchtlingen zu helfen, den tausenden Verwundeten, und mit der Tatsache umzugehen, dass in einer Woche 300 Menschen gestorben sind.

Die USA und Israel wollen dem Libanon eine politische Neuordnung von oben verordnen. Ist die junge demokratische Bewegung Ihres Landes damit nun am Ende?

Das ist eine gute Frage. Die sollten Sie den westlichen Mächten stellen, die nicht eingreifen. Wollen sie die Demokratie destabilisieren? Eine Demokratie, die gerade mal ein Jahr alt ist. Sind das etwa dieselben Leute, die vor einem Jahr gesagt haben, sie würden diese Regierung unterstützen?

Libanons Premier Siniora hat vor der Presse eingestanden, dass seine Regierung die Hisbollah nicht entwaffnen kann. Was kann man nun tun?

Wir brauchen dringend einen Waffenstillstand und ein Ende der Gewalt. Sie schwächt unsere Regierung, sie schwächt den Staat, und sie macht unser ohnehin fragiles Land noch fragiler.

Im Libanon leben Schiiten, Sunniten, Christen, Drusen. Fürchten Sie, dass die Konflikte zwischen den Religionsgruppen durch diesen Krieg wieder zunehmen könnten?

Wenn das so weitergeht, könnte das passieren. Und manchmal frage ich mich, ob es das ist, was die internationale Gemeinschaft will. Ja, die Hisbollah ist eine Gruppe, die keine Waffen haben sollte. Aber die israelische Vergeltung ist absolut unverhältnismäßig. Wir haben hier eine humanitäre Krise, ein Desaster. Eine halbe Million Menschen auf der Flucht, bei vier Millionen Libanesen insgesamt! Das Land wird zu Boden gedrückt, die Wirtschaft auch. Wir haben dieses Jahr eines unserer besten Tourismusjahre erwartet. Ich verstehe nicht, warum das passiert, warum Israel von der UN dafür grünes Licht erhält. Denn Israel zerstört nicht die Hisbollah, sondern das Land.

Sie klingen sehr wütend.

Was mich wütend macht, ist, dass vier Millionen Menschen als Geiseln gehalten werden zwischen der Hisbollah und Israel. Hisbollah auf einer ideologischen Mission, Israel mit einer gewalttätigen Armee. Die Menschen dazwischen zahlen mal wieder den Preis. Die Menschen hier sind müde. Wir fühlen uns von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. Ich bin da in etwas hineingeraten, was mich vollkommen überfordert, ich fühle mich benutzt. Denn ich habe doch meinen Teil zur Demokratie beigetragen.

Vor einem Jahr haben Sie noch dafür demonstriert, dass Syrien sich aus dem Libanon zurückzieht. Welche Rolle spielt Syrien im aktuellen Konflikt?

Keine andere als die USA auf der anderen Seite. Es ist ein Konflikt zwischen Hisbollah, Syrien und dem Iran auf der einen, Israel und den USA und anderen westlichen Mächten auf der anderen Seite. Und der Libanon ist das Schlachtfeld. Aus irgendeinem Grund passiert das alle 15 Jahre.

Wächst unter den Christen der Unmut über die Schiiten, weil mit der Entführung von zwei israelischen Soldaten durch die schiitische Hisbollah alles anfing?

Nein, so etwas können wir hier nicht feststellen. Die Christen helfen den anderen, so gut sie können: egal, ob es nun schiitische, sunnitische oder jüdische Flüchtlinge sind. Ich hoffe auch, dass das so bleibt und es nicht noch zu Spannungen kommt, weil dann der Libanon endgültig destabilisiert würde.

Sprechen Sie mit Anhängern der Hisbollah?

Nein. Aber ich kann deren Perspektive verstehen. Und wenn ich ein Hisbollah-Unterstützer wäre, würde ich es nach den israelischen Angriffen erst recht sein.

Die Hisbollah hat Israel zu seinem Angriff provoziert.

Das stimmt. Dennoch kann Israel mit dieser Politik gegenüber der arabischen Welt nicht ewig so weitermachen. Das wird nur zu noch mehr Hass und Extremismus, zu mehr Hisbollah führen. Die Gewalt wird noch mehr Gewalt nach sich ziehen.

Inzwischen verlassen viele junge Menschen das Land.

Ja, auf jedem Weg, der noch frei ist. Jeder, der gehen kann, wird auch gehen. Es gibt viele jüngere Menschen wie mich im Libanon, die noch vor einem Jahr große Hoffnungen hatten. Auf eine Phase des Übergangs zu etwas Neuem. Darauf, dass endlich einmal eine Zukunft möglich sein könnte im Libanon. Dass die Syrer gegangen waren, dass eine funktionierende Regierung in Beirut eingesetzt wurde. Und nun diese Katastrophe, die unsere Zukunft zerstört. Nun gibt es wieder Chaos. INTERVIEW:

JOHANNES HONSELL