: Emotional unberechenbar
FARBEN Alonso Ruiz Palacios’ „Güeros“, ein überraschendes mexikanisches Road-Movie (Weltpremiere, Panorama)
VON ANDREAS FANIZADEH
Der mexikanische Film erlebte in den vergangenen Jahren einen viel beachteten Aufschwung. Produktionen wie „Amores Perros“, „Y tu mama tambien“ oder „Babel“ stehen für die gelungene Mischung aus postmodernem Underground- und Mainstreamkino. Mit filmischem Selbstbewusstsein behauptet jetzt auch Regisseur Alonso Ruiz Palacios in dem Spielfim „Güeros“ eine absolut gegenwärtige mexikanische Erzählweise, die lokale Perspektiven mit globalen mischt.
Um die Künstlichkeit und existenzialistische Entschlossenheit zu betonen, filmt Ruiz Palacios’ „Güeros“ konsequent in Schwarz-Weiß. Und er lockt dabei gerne auf die falsche Spur. In der Anfangsszene wackelt die Kamera ziemlich. Zwei Jungs ducken sich auf einer Dachterrasse hinter einen Mauersims. Herzklopfen, Grenzüberschreitung, Sinnlosigkeit. Ihre Wasserbombe segelt mehrere Stockwerke tief auf einen Kinderwagen. Flucht, Ratlosigkeit. Einer der beiden Teenager, Tomás, wird von seiner Mutter nach Mexiko-Stadt zum älteren Bruder verschickt.
Der Bruder heißt Fede, auch genannt Sombra (Schatten). Wir sind in Mexiko, und der Filmtitel „Güeros“ lautet übersetzt „Blonde“. Fede ist etwas dunkler, „indianischer“, als zum Beispiel sein Bruder Tomás. Soll es ja geben.
Fast Pasolini’sche Härte
Fede lebt mit seinem Freund Santos in einer Hochhaussiedlung in Mexiko-Stadt. Leicht vergammelt. Der Strom ist abgestellt, und durch das Schwarzweiß bekommt das Ganze fast schon eine Pasolini’sche Vorstadt-Härte. Man könnte um den jungen Tomás besorgt sein, insbesondere da eine der ersten Szenen der Zusammenkunft mit Fede zeigt, wie er dem älteren Bruder ein Geldbündel aushändigt. Aber hier geht nicht alles schief.
„Güeros“ kommentiert einfach wenig vorweg, lässt die Dinge sich entwickeln und spielt dabei mit der Offenheit seiner Charaktere, die der Handlung überraschende Wendungen geben. Fede, Santos, Tomas erweisen sich als mittellos, aber cool, egalitär, aber emotional wenig berechnend. Der Wasserbombenwerfer Tomás bringt sie auf „Epigmenio Cruz“, eine vergessene Legende der mexikanischen Folkmusik. Die Cruz-Kassette ist das einzige Erbstück, das Tomás vom Vater bekommen hat.
Der Film unterbricht den Ton, wenn die Jugendlichen wie in Trance oder auf Tauchstation die Musik von „Epigmenio Cruz“ hören. Sie sind bei dieser Musik völlig weggetreten, Glück als romantische Verklärung für etwas, was es in dieser Gegenwart nicht gibt. Aber das es unbedingt zu finden gilt.
Auch für Anna scheint Cruz’ Musik zunächst wie eine Droge. Einmal die Kopfhörer auf, tauscht sie die Sprache des Streiks an der Unam (Universidad Nacional Autónoma de México) vorübergehend gegen das Zusammensein mit Fede ein. Regisseur Ruiz Palacios lässt seine skeptischen, sanften, aber auch sehr bestimmt auftretenden Außenseiter in diesem verkappten Roadmovie keine großen Töne spucken. Die Spielfilmsequenzen zum großen Streik an der Unam von 1999 wirken durch das Schwarzweiß verstärkt wie aus einer sehr fernen Zeit. All diese Großmäuligkeit in den Hörsäalen, die Che-Guevara-Folklore, wo es um soziale Gerechtigkeit gehen sollte. Ruiz Palacio inszeniert sie 15 Jahre später aus der distanzierten Beobachtung seiner Protagonisten. Der besetzte Campus, ein Dschungelcamp, viele freundliche Menschen, aber auch ganz schön viele Spießer und Egomanen darunter. „Jung sein und kein Revolutionär sein ist ein Widerspruch“, steht auf Spanisch auf einem Plakat.
Pause vom Aktionismus
Anna macht also eine Pause vom Aktionismus, von (weißen) Upper-Class-Clubs und begleitet die drei Melancholiker auf einer Etappe ihrer Autofahrt auf der Suche nach Epigmenio Cruz. Die Folklegende soll arm und vereinsamt in einem Krankenhaus liegen. Das klingt nach einem mexikanischen Kommentar auf die Geschichte von Sixto Rodriguez („Searching for Sugerman“), der tatsächlich mal einen (Emanzipations-)Hit landete und davon jahrzehntelang nichts mitbekam. Doch im Falle von Epigmenio Cruz ticken die Uhren anders, natürlich tun sie das, wir sind in Mexiko.
Zu den lokalen mexikanischen Besonderheiten gehört, dass man in gewissen Vierteln keine falsche Abzweigung nehmen sollte. Zu den globalen: dass man ohne böse Absicht ins Urban Gardening kotzt und dennoch gerne Karotten isst. Fede (Sombra) hat den Tiger im Kopf, der ihn fast umbringt. Tomás die Kassette des Vaters. Und ein T-Shirt mit den Großbuchstaben: „Don’t look back“. Missverständnisse können produktiv sein.
■ 8. 2., Cinemaxx 7, 20 Uhr, 9. 2., CineStar 3, 22.45 Uhr; 10. 2., Colosseum 1, 22.30 Uhr; 14. 2., International, 17 Uhr; 16. 2., CineStar 7, 20 Uhr