: Die Abgrenzung von der Abgrenzung
Schriftsteller jenseits der Fronten? Der Israeli Etgar Keret und der Palästinenser Samir El-Youssef schreiben mit Blick fürs Private gegen die Politisierung ihrer Gesellschaften. Die jetzt auf Deutsch erschienenen Kurzgeschichten der beiden werden trotzdem als Kommentar zum aktuellen Krieg gelesen
VON LEWIS GROPP
In liberalen westlichen Gesellschaften hat sich die Subversion in der Sphäre der Kunst zu einem Dogma entwickelt. Die Dekonstruktion von Identitäten und Weltbildern ist kaum mehr als eine Art „institutionalisierte Revolution“. Für die palästinensische wie auch für die israelische Gesellschaft gelten jedoch andere Gesetzmäßigkeiten: Ein Autor, der einen Außenseiter in den Mittelpunkt stellt, schwimmt gegen den Strom – und genau das tun Etgar Keret und Samir El-Youssef. Sie weigern sich, ihre Figuren der kollektiven Identität zu unterwerfen; sie kreieren Antihelden in einem Umfeld, das seine Identität aus der vermeintlichen Größe seiner Helden und Märtyrer speist.
Als Keret die Story „Rabin ist tot“ im Dezember 1997 veröffentlichen ließ, blies ihm ein eisiger Wind entgegen. Anders als es der Titel suggeriert, handelt es sich bei Rabin nicht um den von einem radikalen jüdischen Siedler ermordeten Premierminister Jitzhak Rabin, sondern um eine gemeine Hauskatze, die von einer Vespa überfahren wird und stirbt. Wie auch El-Youssef beklagt Keret solchermaßen die „Tyrannei der öffentlichen Meinung und der Politik“. Er wehre sich dagegen, so Keret im E-Mail-Gespräch, dass jede private Gefühlsäußerung auf Verträglichkeit mit dem „nationalen Kontext“ überprüft werde. „Samir und ich sind in dem Sinne ‚unpolitisch‘, dass wir gegen die reduktionistische Auffassung rebellieren, nach der die Politik die Realität vereinfachen und simplifizieren soll“, erklärt Keret. „Die Realität im Nahen Osten ist aber doch wesentlich komplexer und vieldeutiger. Realität an sich ist komplex. Diese Tatsache hat für den politischen Diskurs in Israel allerdings so gut wie keine Bedeutung – da geht es in der Regel nur darum, zu bestimmen, wer recht hat und wer nicht.“
In Israel ist die Angst vor liberalen Positionen, die als Zeichen von Schwäche gelten könnten, eine kräftige Triebfeder der nationalen Psyche, die auch starken Druck auf den öffentlichen Diskurs ausübt. Zwar werden kritische Debatten geführt und Dissens ist erlaubt. Doch als Keret und El-Youssef nach Auftritten in England und Kontinentaleuropa auch nach Jerusalem kamen, um dort aus ihrem gemeinsamen Buch „Gaza Blues. Different Stories“ zu lesen, das jetzt auf Deutsch unter dem Titel „Alles Gaza – Geteilte Geschichten“ vorliegt, war die Aufnahme durch das dortige Publikum ernüchternd, wie El-Youssef erklärt. „Wir haben ja gar nicht damit gerechnet, hier mit offenen Armen empfangen zu werden. Denn es ist doch so: Unser Standpunkt steht im Widerspruch zur Mehrheitsgesellschaft. Unser Projekt ist so was wie ein Versuch zweier Autoren, diejenigen zu motivieren, die die Hoffnung auf Frieden noch nicht aufgegeben haben“, schreibt er in seiner E-Mail.
Die Initiative für das Projekt ging von El-Youssef aus: Nach dem Ausbruch der zweiten Intifada rief er seinen Freund in Tel Aviv an, um ihn für ein gemeinsames Projekt zu gewinnen, das ein starkes symbolisches Zeichen setzen und dann hoffentlich mehr hinterlassen würde als einer der zahllosen und schnell verhallenden Aufrufe zur Aussöhnung. Für einen palästinensischen Intellektuellen stellt eine dialogische Zusammenarbeit mit einem israelischen Kollegen indessen einen noch viel größeren Schritt dar als umgekehrt; zumal dann, wenn er – wie Samir El-Youssef – kein israelischer Palästinenser ist, sondern seine Kindheit in einem libanesischen Flüchtlingslager verbracht hat. Der Druck, sich gegenüber Israelis – ganz egal, aus welchem politischem Lager – abzugrenzen, ist enorm: Schnell wird der Vorwurf erhoben, die Bereitschaft für Dialogprojekte werde von israelischer Seite genutzt, um von der Kolonialisierung und Unterjochung des palästinensischen Volkes abzulenken. In Bezug auf ein anderes großes Dialogprojekt dieser Art – das West Eastern Divan Orchestra, initiiert von dem palästinensischen Literaturkritiker Edward Said und dem jüdischen Dirigenten Daniel Barenboim –, hat El-Youssef mit bitterem Spott bemerkt: „Oh, mir war nicht bewusst, dass sich Edward Said als Feigenblatt der Israelis hat missbrauchen lassen.“ Der vor drei Jahren verstorbene Said galt zeit seines Lebens als notorischer Kritiker von Israels Besatzungspolitik.
El-Youssef sieht in der rigiden Abgrenzungsstrategie von Seiten der Palästinenser die Gefahr der Reduktion der eigenen Identität auf die eindimensionale Rolle des Opfers. In vielen Artikeln hat er erklärt, dass nicht nur die Besatzung, sondern auch die kategorische Abwehrhaltung zur mentalen Ghettoisierung der Palästinenser beiträgt und dass so keine eigenständige palästinensische Kultur entstehen kann. In seinem Beitrag zu „Alles Gaza“, der Geschichte „Der Tag, an dem die Bestie Durst bekam“, nimmt El-Youssef den Kampf um diese Deutungshoheit auf.
Als Hauptfigur inszeniert er einen zerrütteten Proto-Intellektuellen, der sich einen feuchten Kehricht um den Widerstand schert, den Großteil seiner Zeit mit der Suche nach Drogen und Betäubungsmitteln verbringt, zwischendurch immer wieder versucht, ein Visum nach Deutschland zu bekommen, um dort gegebenenfalls als Zuhälter zu arbeiten, und der zuletzt einer Frau nachstellt, von der er behauptet, sie sehe aus „wie ein Affe“. Seinem enthusiastischen Freund Ahmad, der an einem Theaterstück über den Widerstand arbeitet und ihm erklärt, „dass die Intifada an sich schon ein Kunstwerk ist“, entgegnet der namenlose Protagonist, dass er sich diese „gerechte Sache in den Arsch stecken“ solle.
Trotz dieser herben Direktheit, die auf Deutsch noch mal eine halbe Note gröber klingt als im leichtfüßigeren englischen Original, ist El-Youssefs lange Kurzgeschichte nicht vordergründig und nur in dosierten Ansätzen zotig: Mit reflektiertem Humor und mit einem schmutzigen Sprachgestus, der den behaupteten Edelmut des Widerstandes konterkariert, entlarvt er, wie die Besatzung als Metapher für die alltäglichen Sorgen herhalten muss. „Jedes Mal, wenn er [Ahmad] zu mir kam und sagte: ‚Unsere Sache macht eine ihrer schwärzesten Zeiten durch‘, wußte ich, daß er sich mit seiner Mutter gestritten haben mußte und die alte Kuh ihn wieder mal als nutzlos beschimpft hatte.“ El-Youssef schießt frech und polemisch aus der Hüfte und lässt seinen Protagonisten die Diskussionskultur arabischer Intellektueller verunglimpfen: „Ich fragte mich: Können Tote sterben? Ich dachte, eine solche Frage könnte ein gutes Diskussionsthema unter arabischen Intellektuellen sein. Irgendein Journalist von einer bescheuerten Zeitung könnte sich dieses Themas annehmen: Können Tote sterben?“ Jemand, der so genau einen wunden Punkt trifft, gilt schnell als Außenseiter und Nestbeschmutzer. El-Youssef lebt seit 1990 in Großbritannien.
Nachdem „Gaza Blues“ vor zwei Jahren in England erschien, hat der Luchterhand Verlag das kleine Taschenbuch jetzt zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, da die ganze Aufmerksamkeit die beiden Autoren in ein politisiertes Licht rückt. Von Literatur und den Geschichten ist kaum mehr die Rede. So hat die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in den letzten beiden Ausgaben einen Briefwechsel zwischen den beiden angeschoben, der von El-Youssef eröffnet wurde. Dem Ton des ersten Briefes ist anzumerken, wie der Autor um Fassung ringt und bemüht ist, angesichts des Ausbruchs der Gewalt seine Verzweiflung im Zaum zu halten. Unter anderem schreibt El-Youssef, dass die Hisbollah, die Hamas, die israelische Regierung, das iranische Regime, das syrische Regime und die US-Regierung alle eines gemeinsam haben – sie alle vertreten eine „Gewalt geht vor Recht“-Haltung. In seinem Antwortbrief widersprach ihm Keret. In der Hisbollah sieht er den von Syrien und Iran gestützten Aggressor, der danach trachtet, den Staat Israel zu vernichten. Indem der Libanon es der Hisbollah erlaubt habe, die Zivilbevölkerung Israels unter Beschuss zu nehmen, so Keret, hat er sich indirekt an den Verbrechen beteiligt. Der deutschen Wochenzeitung Jungle World gegenüber erklärte Keret, seine Aufgabe als „Linker“ bestehe nun lediglich darin, „die Exekutive zu ermahnen, humaner vorzugehen, damit keine Zivilisten verletzt werden“. Den Krieg hält er für gerecht.
Im Ton ist der Briefwechsel freundschaftlich und verbindlich. Doch die Akzentverschiebung in den Positionen und auch die zunehmende Frustration über die Kriegsroutine zeigt, dass der Konflikt derart spannungsgeladen, wenn nicht hoffnungslos ist, dass auch kritische Geister in ihrem Urteil von der jeweiligen „nationalen Zugehörigkeit“ maßgeblich beeinflusst werden.
Zafer Senocak hat in der taz vom 26. Juli den Nahostkonflikt in einen größeren Kontext gesetzt und diagnostiziert, dass es sich bei der aktuellen Auseinandersetzung um einen bereits globalisierten Kulturkampf zwischen den westlichen Demokratien einerseits und dem politisch radikalisierten Islam andererseits handelt. Als Deeskalationsstrategie denkt Senocak eine Art meditative Einkehr für beide Lager an, die den Blick selbstkritisch auf das eigene Tun lenkt. Für Keret bleibt dabei der Nahostkonflikt im Mittelpunkt der Auseinandersetzung: „Die ‚Ursünde‘ Israels war und ist die Besatzung. Solange das palästinensische Volk keinen eigenen Staat hat und nicht in Freiheit lebt, wird es keinen Frieden im Nahen Osten geben.“ El-Youssef weigert sich dagegen, überhaupt in diesen Kategorien zu diskutieren. Der Westen auf der einen Seite, die Muslime auf der anderen – „diese Aufteilung halte ich für grundlegend falsch. Die Behauptung an sich ist eigentlich schon fast kriegstreiberisch.“ Die Realität im Nahen Osten (und überall sonst auf der Welt) ist und bleibt, da sind El-Youssef und Keret sich einig, wesentlich komplexer.
Etgar Keret, Samir El-Youssef: „Alles Gaza – Geteilte Geschichten“. Aus dem Englischen von Barbara Linner und Verena Kilchling. Sammlung Luchterhand 144 Seiten, 8,00 €