KONSERVATIVER PROTEST GEGEN DIE „MARIANNE“-BRIEFMARKE
: Leck mich!

VON RUDOLF BALMER

Und plötzlich begeistert sich ganz Paris für die Philatelie. Seit Jahrzehnten wurde nicht mehr so leidenschaftlich über eine Briefmarke gestritten. So wie in jedem Rathaus eine Statue der „Marianne“ steht, bildet auch die französische Post auf den Briefmarken für den Normalverbrauch die „Marianne“. Und selbstverständlich ist es eine Ehre – wie in der Vergangenheit Brigitte Bardot oder später Sophie Marceau oder Laetitia Casta – Modell zu stehen.

Der Glaubenskrieg um die neue „Mariannen“-Serie ist allerdings bezeichnend für den Zustand Frankreichs. Statt gewichtigere Probleme aufzuwerfen, geht es um eine Briefmarke. Konservative kirchliche Kreise unterstellen, auf der neuen Serie das Antlitz der „Femen“-Gründerin Inna Shevchenko zu erkennen, und protestieren in einem von Le Figaro publizierten offenen Brief an den französischen Staatspräsidenten: „Es ist (für uns) unvorstellbar, dass die Anführerin einer gewalttätigen, extremistischen und antireligiösen Bewegung, die jetzt zu Terror aufruft, in der einen oder anderen Weise die Republik verkörpern kann.“

125.000 ähnlich Denkende haben sich kürzlich anlässlich eines Besuchs von Hollande im Vatikan in einer „Bittschrift“ über „Femen“ beschwert. An einer Kundgebung an diesem Wochenende verlangen sie sogar die Auflösung und das Verbot des französischen Ablegers von „Femen“, weil deren Mitglieder die Kathedrale Notre-Dame sowie die Kirche La Madeleine mit ihren barbusigen Aktionen „profaniert“ hätten.

Es braucht wirklich viel Fantasie, um auf dem Porträt der neuen „Marianne“, die eher wie ein Schneewittchen aussieht, eine Ähnlichkeit mit der Ukrainerin Shevchenko festzustellen. Für deren GegnerInnen aber reicht es, dass der Zeichner Olivier Ciappa einmal erwähnt hatte, er habe sich – unter anderem – von der blonden „Femen“-Aktivistin Shevchenko inspirieren lassen: Die „Marianne“ sei in der Vergangenheit stets als Revolutionärin mit entblößten Brüsten dargestellt worden – wie eine Vorläuferin von „Femen“. Shevchenko twitterte ihre Genugtuung über diese Proteste: „Now all homophobes, extremists, fascists will have to lick my ass when they send a letter.“

Viel Lärm um nichts, meint zu diesem Glaubenskrieg die Leiterin eines benachbarten Postamts in Paris. Sie ist eher amüsiert über so viel Interesse an einer so banalen Briefmarke, die wegen dieser Polemik womöglich noch einen unerwarteten Sammelwert bekommt. Und wer die umstrittene „Marianne“ nicht auf seinen Brief kleben mag, könne ja immer noch auf die hübschen Sondermarken ausweichen. Für diese Nostalgiker bietet sich gegenwärtig die Marke mit der sehr katholischen Anne de Bretagne (1477–1514) geradezu an.