: Kana: Das Sterben im Bunker
Eine israelische Bombe tötet mehr als 50 Menschen im Libanon. Spontandemo in Beirut
AUS BEIRUT KARIM EL-GAWHARY
Die Menschen in Beirut haben sich in den 19 Tagen des Krieges an einiges gewöhnt. Die Schulen in der Nachbarschaft sind voll mit Flüchtlingen, immer wieder sind Explosionen aus der südlichen Vorstadt zu hören. Doch die Fernsehbilder, die sie gestern Morgen aus dem südlibanesischen Kana zu sehen bekamen, waren zu viel.
Live, ungefiltert und lange Zeit ohne Kommentierung, zeigten sie die Bilder von den Bergungsarbeiten in Kana: Kinder in Schlafanzügen, die von Rotkreuz-Mitarbeitern aus den Trümmern eines Bunkers gezogen werden. Eine tote Mutter, die ihr lebloses Kind im Arm hält. Überlebende, die verwirrt und im Schock durch die Straßen laufen, auch sie tragen teils Leichname ihrer Kinder. Jemand hat aus dem Haus ein Fotoalbum geholt und zeigt unter Tränen Erinnerungsbilder seiner Frau und der Kinder, die noch unter den Trümmern liegen.
Zwei Stunden dauerten die israelischen Luftangriffe auf Kana in der Nacht zum Sonntag, die Bomben machten dutzende Häuser in dem libanesischen Dorf dem Erdboden gleich. Mindestens 51 Menschen starben, unter ihnen 22 Kinder. Viele starben in einem provisorischen Schutzraum, der offensichtlich einen Volltreffer erhalten hatte. Unter den 63 Menschen aus der Nachbarschaft, die hier Zuflucht gesucht hätten, seien 34 Kinder und etwa ein Dutzend Behinderte gewesen, sagt ein Anwohner. „Wir haben mehrere Tage in diesem Bunker verbracht“, erzählt einer der Überlebenden gegenüber der arabischen Fernsehstation al-Dschasira. Die Kinder hätten sie wie immer nach dem Abendessen im Bunker zum Schlafen gelegt. Die Erwachsenen seien noch wach geblieben und hätten Tee getrunken. „Wir haben zwar immer die Explosionen gehört, aber wir haben uns im Bunker sicher gefühlt“, erzählt er. „Plötzlich gab es eine Explosion ganz in der Nähe, und kurz darauf ist der Schutzraum selbst getroffen worden“, erinnert er sich. Seine Schwester ist tot. Die Frau seines Onkels, ihre Kinder und deren Kindern, drei Generationen der Familie sind umgekommen, sagt er. Der Onkel war bereits vor ein paar Tagen bei einem Bombenangriff umgekommen.
Das israelische Militär hat nach eigenen Angaben nicht gewusst, dass Zivilisten in dem bombardierten Gebäude waren. Einem hochrangigen Luftwaffenkommandeur zufolge war die Armee davon ausgegangen, dass sich in dem Haus Hisbollah-Kämpfer aufgehalten hätten.
In Beirut erreichte unterdessen der angestaute Ärger über den Krieg den Siedepunkt. Aus einer Spontandemonstration heraus stürmten einige der Protestierenden das UN-Gebäude. Sie warfen die Fensterscheiben ein und drangen in die Büroräume vor. Das UN-Personal flüchtete. Als schließlich die Armee und die Polizei aufzogen, beruhigte sich die Lage, wenngleich die Demonstration vor dem Gebäude noch weiter anschwoll. „Ich bin gekommen, weil ich nicht mehr länger zu Hause sitzen und vor dem Fernsehen heulen wollte. Ist das kein Terrorismus?“, fragt Jamila Muhsen eine Mitarbeiterin des seit Kriegsbeginn geschlossenen Beiruter Flughafens.
Der Ärger über die internationale Inaktivität ist groß: „Die UNO ist der offizielle Sponsor des israelischen Massakers“ steht auf einem Schild geschrieben. Andere tragen gelbe Hisbollah-Flaggen oder das Porträt des Hisbollah-Chefs Hassan Nasrallah. Aber bei weitem nicht alle auf dieser Demonstration sind Hisbollah-Anhänger. „Mein Herz hat angefangen zu brennen, als ich diese toten Kinder gesehen habe“, erklärt die Ballettlehrerin Mai Haider ihr Kommen. „Ich möchte den Westen fragen: Ist das die Demokratie, die ihr uns lehren wollt.“
Auch die libanesische Regierung reagierte auf den bisher folgenschwersten israelischen Angriff. Die Regierung Fuad Siniora lud die US-Außenministerin Condolezza Rice aus, die eigentlich zu diplomatischen Gesprächen in Beirut erwartet worden war. Fazit aller Regierungsmitglieder und des Präsidenten Emile Lahoud: Ohne einen Waffenstillstand gibt es nichts mehr zu verhandeln. Stattdessen forderte der libanesische Premier eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats, der einen sofortigen Waffenstillstand erwirken soll.