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Archiv-Artikel

Das virtuelle Weltgericht

HIPPEN rät ab In „8. Wonderland“ denken Nicolas Alberny und Jean March das Phänomen der virtuellen Gemeinschaften zu Ende und vergessen dabei, dass sie dies im Kino tun

Die Filmemacher machten sich wenig Gedanken über altmodische Konzepte wie Dramaturgie, Bildgestaltung oder Schauspielerführung

VON WILFRIED HIPPEN

In der ersten Einstellung dieses Films wird ein Experiment mit Küchenschaben gezeigt. Einer von ihnen wird ein Mikrochip eingepflanzt, der in der kruden Animation in Signalrot leuchtet, und danach folgt eine kriechende Masse von Insekten diesem elektronischen Führer. Das Logo der virtuellen Gemeinschaft „8. Wonderland“ hat nicht umsonst die gleiche Farbe wie dieser Chip, denn in diesem Film wird ein ähnliches Experiment durchgespielt, bei dem ein Kollektiv von Internet-Benutzern, die sich zu einer virtuellen Gemeinschaft zusammengeschlossen haben, die Versuchskaninchen sind.

Die beiden französischen Regisseure Jean Mach und Nicolas Alberny haben sich viele Gedanken über das Phänomen der virtuellen Gemeinschaften gemacht und viele der zur Zeit aktuellen Tendenzen konsequent zu Ende gedacht. Dazu schufen sie sich ein riesiges Internetforum, in dem User aus aller Welt über die Weltlage debattieren und Strategien entwickeln, um jene Zustände, die die Mehrheit von ihnen als Missstände ansehen, zu verändern.

Die Macht von „8. Wonderland“ liegt in der Masse der User und darin, dass sie traditionelle Hierarchien und Strukturen unterlaufen können. Da die meisten Bürger dieses virtuellen Landes zu den Eliten ihrer Länder zählen, kann etwa die Übersetzerin bei einem Treffen der Präsidenten von Russland und dem Iran die einleitenden Höflichkeitsfloskeln der Politiker als wechselseitige Beleidigungen übersetzten, wonach sich alle beschimpfen und der drohende Vertrag für den Bau von Atomanlagen im Nahen Osten platzt.

Eine Firma wird dazu gezwungen, Kündigungen und die Schließung von Fabriken zurückzunehmen, weil plötzlich überall Beschwerden und Schadenersatzansprüche über Unfälle gemeldet werden, die auf die fehlerhaften Produkte dieses Herstellers zurückzuführen sind. Dies sind raffinierte und witzige Planspiele, die die Filmemacher mit viel anarchistischer Spielfreude inszeniert haben.

Doch spätestens wenn die Community mit knapper Mehrheit für ein Attentat auf einen korrupten lateinamerikanischen Politiker stimmt und das Urteil direkt von dessen Leibwächter vollstreckt wird, stellen sich Fragen nach der Moral und den Grenzen dieser virtuellen Macht.

Die Filmemacher haben ein Drehbuch geschrieben, das von interessanten Einfällen überquillt. Doch leider haben sie sich nicht annähernd so viele Gedanken über die filmische Umsetzung all dieser Ideen gemacht, und sich zu wenig Gedanken über solch altmodische Konzepte wie Dramaturgie, Bildgestaltung, Montage oder Schauspielerführung gemacht. Fast die Hälfte des Film scheint eher von einem Webdesigner als von einem Filmemacher produziert worden zu sein, denn bei den vielen und langen Debatten der Internetgemeinschaft sieht man nicht viel mehr als Köpfe, die in Webcams sprechen Die Reaktionen der Außenwelt werden jeweils als Nachrichtenmeldungen inszeniert, bei denen zwar Darsteller in beindruckend vielen Sprachen die jeweiligen Meldungen verlesen um so die globale Verbreitung der Aktionen zu dokumentieren, aber – obwohl Amanda Lear einen kleinen Gastauftritt als Moderatorin hat – wirken die ewigen Nachrichtenmeldungen schnell ermüdend.

Noch schlimmer sind aber die Spielszenen, in denen Minidramen von einigen der Schlüsselfiguren dargestellt werden. Die Laiendarsteller agieren hier auf dem Niveau der billigsten Daily Soaps, und das Drehbuch ist so unausgegoren, dass etwa ein muslimischer Mann seine Frau beim Chatten erwischt, diese mit einem Satz seine ganze Weltanschauung umdreht und beide danach friedlich in die Webcam lächeln. An den Menschen in ihrem Film sind Mach und Alberny kaum mehr interessiert als an den Küchenschaben. Und auch das Kino mit seinen visuellen Möglichkeiten scheint sie kaum zu interessieren. Dies ist nicht nur ein Film über, sondern auch für den Heimcomputer. Und das Zielpublikum hat ihn sich wohl schon längst heruntergeladen.