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Archiv-Artikel

Hiob aus dem Morgenland

SUBVERSIV Wenn man die Schuldfrage nicht stellen darf, bleibt die Flucht ins Absurde: Das chinesische Nationaltheater brilliert mit dem Verliererepos „Leben“ am Deutschen Theater. Die politische Botschaft: zynisch

Fu Gui kniet, zerrissen von Verlustschmerzen, auf dem Bühnenboden und lässt Mineralwasserflaschen zerschellen: voller Wut, ohne Anklage

VON SHI MING

Erst verliert Fu Gui, selbst verschuldet, im Spielrausch sein Vermögen. Dann, ohne Selbstverschulden, wird er von Warlords eingezogen, durchleidet Kälte, Hunger und Todesangst. Als er wieder daheim ist, in seinem Dorf, hat er nur noch eins im Sinn: überleben, ohne je nach Schuld und Schuldigen zu fragen.

Fu Guis Geschichte ist das Schicksalsepos einer chinesischen Bauernfamilie. Das chinesische Nationaltheater unter der Regie von Meng Jinghui brachte „Leben“ nach dem gleichnamigen Roman von Yu Hua am Wochenende als Gastspiel auf die Bühne des Deutschen Theater. Drei Stunden lang wurde den Zuschauern ein Potpourri des Absurden aus 60 Jahren Volksrepublik gereicht – auf Chinesisch wohlgemerkt, jedoch mit deutscher Übertitelung – eine komische Katastrophe jagte dabei die andere.

Kollektives Stahlkochen

Erst will Gui für das kollektive Stahlkochen bei der Kampagne „Großer Sprung nach vorn“ den eigenen Kochtopf als Rohstoff nicht an die Volkskommune abgeben. Dann, als man ihm das Versprechen gibt, er und seine Familie würden allzeit umsonst speisen, jede Mahlzeit sogar mit Fleisch, führt er als der einzig Kundige, der die Außenwelt kennt, die Dorfgemeinde als Vorarbeiter bei der kollektiven Stahlkochmission an. Und wenig später? Bricht natürlich eine Hungersnot über die Dorfbewohner herein.

Als ob ideologische Verblendung plus eigene Dummheit nicht genug wären, erlebt Gui dann auch noch seine ganz persönliche Katastrophe – in der sich freilich auch die Herzlosigkeit der auf Effizienz getrimmten chinesischen Planwirtschaft spiegelt. Als Guis Tochter bei der Entbindung in Lebensgefahr schwebt, fragt eine Ärztin vor dem Kreißsaal Vater und Großvater lapidar: „Wollt ihr die Große oder den Kleinen lebend haben?“

Die Katastrophen, die dem Helden nach und nach alle geliebten Menschen – Sohn, Tochter, Schwiegersohn, Ehefrau, Enkel – rauben, stehen immer im direkten Zusammenhang mit einem wichtigen Ereignis in Chinas Geschichte. Bemerkenswert nur: Meng Jinghui verfremdet die historische Wahrheit mit Karikatur, Folklore, bisweilen auch mit westlichem Pop, zu dem Komparsen cheerleaderartige Gruppentänze zeigen. Die – durchaus zynische – Botschaft: Wichtig ist nicht, was oder wer Katastrophen verantworten muss, sondern wie man sie überlebt, physisch wie psychisch. So gesehen muten Fu Guis (virtuos: Huang Bo) Trauer, seine Verzweiflung, die lautlose Klage wie Ventile eines Menschen an, der im Überleben den ganzen Sinn erblickt, oder besser: zu erblicken hat.

Und da versteckte sich denn auch die staatspolitische Botschaft des genialen Gastspiels aus Peking. Das Nationaltheater untersteht dem chinesischen Kultusministerium, das somit der jüngsten Anweisung von Parteichef Xi Jinping Folge zu leisten hat: Nirgends dürfe man die siegreiche Geschichte der regierenden Kommunistischen Partei (KP) in Frage stellen, egal welche Katastrophen auf deren Konto zu verbuchen sind.

Die Kochtopfszene, der „Große Sprung nach vorn“ (1958), etwa. Eine Kampagne, bei der die Arbeiter angetrieben wurden, den eigenen Fünfjahresplan zu übertreffen, um so den Anschluss an die westlichen Industrienationen schneller herzustellen: etwa 30 Millionen Chinesen starben an Hunger, weil anders die Exportziele, zum Beispiel für Getreide, nicht zu erreichen waren.

Keine Anklage möglich

Meng Jinghuis „Leben“ zeichnet so das Bild eines chinesischen Hiobs. Jinghui hebt verschiedenste politische Katastrophen ins Absurde, sodass gegen sie einfach keine Anklage mehr erhoben werden kann. Die Fragen nach der Schuld und den Schuldigen kraft herrschender Verhältnisse erübrigen sich.

In Europa, wo Sozialkritik stilbildend ist, hätte ein abendländischer Hiob wohl nicht nur zu klagen, sondern auch anzuklagen. Dieser chinesische Hiob aber klagt nicht an. Oder tut er es nur in Europa nicht? Denn im chinesischen Zentralfernsehen CCTV rief am 31. Januar auf der diesjährigen Frühlingsfestgala das Revolutionsballett alle Chinesen dazu auf, nach der Schuld für die Not und das Leid dieser Welt zu fragen. Die richtige Antwort wird allerdings auch gleich vorgegeben: Die Ausbeuterklasse und der Imperialismus sind schuld.

In Berlin kniet Fu Gui, zerrissen von Verlustschmerzen, auf dem Bühnenboden und lässt mit Wucht Mineralwasserflaschen zerschellen: voller Wut, ohne Anklage. Fontänen spritzen, blau und gelb bestrahlt, über den gekrümmten Rücken des ewigen Verlierers. Derweil, auf Pekinger Bühnen, schmeißen in Siegerpose Helden, sonnengelb ausgeleuchtet, fröhlich Granaten gegen Klassenfeinde, berauscht vom kollektiv gejohlten „Vorwärts, vorwärts! Wir Kämpfer schultern eine schwere Mission der Befreiung!“