: Von der hohen Heilkunst zum offenen Haus
Das Jüdische Krankenhaus Berlin zählt zu den ältesten jüdischen Institutionen der Stadt. 1756 wurde es gegründet und von berühmten Medizinern geführt. Als einzige jüdische Anstalt überlebte es die Naziherrschaft. Jetzt wird es 250 Jahre alt. Doch kaum jemand kennt das Krankenhaus im Wedding
VON ROLF LAUTENSCHLÄGER
Etwas Kühle schlägt dem Besucher entgegen, wenn er das Foyer betritt. Durch die Flure strömt der Hauch von geputzter Sauberkeit. Wie in jedem Krankenhaus kratzt beim Atmen ein wenig der Hals, Desinfektionsmittel und Antiseptika für die Hygiene reizen die Schleimhäute der Luftröhre.
Auch sonst erinnert der dreigeschossige lange Zentralbau mit kleinen Seitenflügeln an bekannte Klinikarchitekturen der Jahrhundertwende um 1900. Außen spielt der Bau ein wenig Historismus, ein Mittelrisalit mit Türmchen dominiert die Form. Und wer nach innen tritt, geht, vorbei an der Patientenaufnahme, hinauf zu den Krankenzimmern, den Abteilungen für Chirurgie, Innerer Medizin und Anästhesiologie. Kranke, Schwestern, Pfleger, Ärzte und Besucher beleben das Haus. Es ist wie überall dort, wo man nur hingeht, wenn man unbedingt muss.
Das Jüdische Krankenhaus in Berlin feiert in diesem Jahr seinen 250. Geburtstag. Zwar ist es weitgehend unbekannt, aber eine der ältesten jüdischen Institutionen der Stadt. Als einzige in Deutschland hat die Anstalt die Naziherrschaft überlebt.
Doch erst auf den zweiten Blick bietet das Gebäude spezifische Eindrücke. „Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde“ steht etwas verblasst im Dreiecksgiebel hoch über dem Zugang. Hier und da zieren Davidsterne als Ornamente die Mauern und Fenster. Eine kleine Synagoge als Bet- und Andachtsraum markiert, wo man sich befindet.
Ein Ort des Erinnerns
Vor dem Haus, in der Heinz-Galinski-Straße in Wedding, erinnert – wie der Straßenname auch – eine Gedenktafel an die Geschichte der Klinik und die Zeit des Naziterrors. Man findet noch eine Büste Galinskis, des Holocaust-Überlebenden und legendären Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde. Viel mehr ist nicht. „Das Jüdische Krankenhaus ist kein Mahnmal. Es ist vielmehr ein Ort, sich zu erinnern“, kommentiert Gerhard Nerlich, Sprecher der Klinik, die Bedeutung der 400-Betten-Anlage, die 1963 vom Land Berlin übernommen wurde.
Natürlich ist jede historische jüdische Institution in Deutschland und damit auch das Krankenhaus in Wedding ein Gedenkort. Auch Nerlich grenzt das nicht aus. „In seiner 250-jährigen Geschichte symbolisiert das Jüdische Krankenhaus die Höhen und Tiefen deutsch-jüdischer Geschichte und Kultur.“ Großer Kultur also, ganz abgesehen einmal von der wissenschaftlichen Arbeit, die Mediziner und Forscher dort geleistet hätten.
„In diesem Gebäude sind 12 Stuben, fünf für weibliche und sieben für männliche Kranke bestimmt“, schrieb 1791 Johann Georg Krünitz über die 1756 gegründete Heilanstalt in der Oranienburger Straße 8. „Es faßt 300 bis 350 Kranke von welchen selten mehr als 10 bis 12 sterben. Es werden Kranke aller Art darin aufgenommen […], desgleichen Fremde aus Polen, Preußen, aus dem Reiche etc. Es ist die einzige große und öffentliche Anstalt von der Art, welche die Juden in ganz Deutschland haben.“
Wie das wachsende Berlin für seine Bürger Kranken- und Pflegeeinrichtungen errichtete und sich um das Gesundheitswesen bemühte, so machte die auf 2.000 Personen anwachsende jüdische Bevölkerung damals auch die Gründung eines Krankenhauses nötig. Die Jüdische Gemeinde kaufte das Grundstück nahe dem Hackeschen Markt und investierte in die Kosten des Baus.
Mit Marcus Herz, dem Arzt, Schriftsteller und Philosophen, als einem der ersten Ärzte der Klinik erlangte das Krankenhaus ab 1779 seinen guten Ruf. Mit zu diesem Erfolg trug seine Frau Henriette Herz bei, deren berühmter Salon in Berlin die Romantiker Jean Paul, die Brentanos, Schlegels und Tiecks ebenso anzog wie die Wissenschaftler Alexander und Wilhelm von Humboldt. Wer die „gute Gesellschaft sehen will“, wie Friedrich Schleiermacher sagte, „lässt sich hier einführen“.
Das aufgeklärte Judentum, die Assimilationsbestrebungen und der Wille zur Emanzipation wie die Herzens das verkörperten, das fachliche Ansehen der Klinik in der Stadt und steigende Patientenzahlen erforderten 1861 einen ersten Neubau des Krankenhauses. Baurat Knoblauch, der die Synagoge in der Oranienburger Straße gebaut hatte, entwarf in der Auguststraße einen dreiflügligen Pavillonbau nach den modernsten medizinischen und architektonischen Gesichtspunkten. Jedes Zimmer verfügte über Nasszellen und Toiletten, es gab Dampfbäder. Auf jedem Stockwerk befanden sich Operationssäle, Massenquartiere wurden von Zweibettzimmern abgelöst. Es existierten ausgelagerte Abteilungen zur Isolierung Epidemiekranker und Pavillons mit Gartenzugang. Carl H. Esse, Chef der Charité, nannte die 100-Betten-Klinik das beste Krankenhaus Berlins.
James Israel (1848 bis 1926), der von 1871 bis 1917 am Jüdischen Krankenhaus arbeitete und lehrte, zählt neben Bernhard von Langenbeck bis dato zu den bedeutendsten Ärzten an der Klinik. Als einer der besten Chirurgen des Reiches entwickelte Israel erfolgreiche Methoden gegen die Wundinfektion. Israel operierte Nierenpatienten und entfernte kranke Organe. Als Kapazität auf dem Gebiet der Blasenchirurgie und Urologie kam der Professor zusätzlich zu Ehren und entwickelte das Jüdische Krankenhaus zu einer Forschungsanstalt auf diesen Gebieten. Israel ist das Beispiel für den Einfluss, die Bedeutung und Repräsentanz jüdischer Mediziner und ihrer Methoden in jener Zeit.
Als die erneut stark gewachsene Jüdische Gemeinde um 1900 nach einer Erweiterung des Krankenhauses verlangte und die Repräsentantenversammlung den Bau einer Klinik im Wedding empfahl, ließ Israel diese zu einer „Anstalt mit allen Hilfsmitteln der ärztlichen Kunst und Wissenschaft ausstatten“. 1914 zog die Klinik aus der Spandauer Vorstadt um, es entstand ein Zentrum internationaler Ärztekunst und Forschung. Glanzstücke des Baus, schrieb damals die Fachpresse, waren die Operationssäle, von denen Kollegen an anderen Krankenhäusern nur träumen konnten.
Zerstört wurde der Traum 1933 von den Nazis, die Horrorgeschichte des Jüdischen Krankenhauses begann. War es bis 1937 noch Klinik und Arbeitsplatz für die vielen aus städtischen Kliniken vertriebenen jüdischen Ärzte, Krankenschwestern und Patienten, änderte sich 1938 die Situation im Krankenhaus dramatisch. Das brutale Eingreifen der NS in den Alltag der jüdischen Bevölkerung – Verhaftung, Ermordung, Passentzug, Arbeitsverbot, Ausplünderung, Vermögensentzug etc. – machte auch vor der Klinik nicht Halt. Ärzten wurde die Approbation entzogen. „Mit dem Arbeitsentzug gab es den jüdischen Arzt, der in Deutschland hohes Ansehen genossen hatte, nicht mehr“, resümiert der Förderverein Freunde des Jüdischen Krankenhauses.
Die Gestapo richtete 1938 in der Klinik eine Polizeistation ein, mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde es Sammellager und Zwischenstation für Juden in die Vernichtungs- und Konzentrationslager. 1943, in der Phase brutalster Unterdrückung, gab es kaum noch Raum in der Klinik für die Selbstmordopfer. 7.000 Berliner Juden gingen damals in den Tod. „Sie hatten Tabletten oder Zyankali genommen“, erinnerte sich eine Schwester. „Wir legten sie ins Badehaus, weil wir keinen Platz mehr hatten.“
Wer noch lebte, den transportierte die SS in die Todeslager – darunter den Darmspezialisten des Jüdischen Krankenhauses, Hermann Strauß (1868 bis 1945), der mit seiner Frau nach Theresienstadt deportiert und wie viele andere Mediziner des Hauses ermordet wurde.
Der Weg zur Normalität
Von zwei Wundern muss dennoch erzählt werden. Zum einen blieb das Krankenhaus – trotz ständigen Terrors und der Angst vor Verrat – bis zum Kriegsende geöffnet. Die Anstalt geriet zum Ghetto. Zum anderen konnten sich dort bis zu Befreiung rund 800 Personen versteckt halten. Am 22. April verschwand die Gestapo, am 24. April 1945 wurde das Sammellager aufgelöst.
Ebenfalls ein Wunder ist es, dass das Jüdische Krankenhaus angesichts der Geschichte des Holocaust in Deutschland niemals aufgab. Als die kleine Jüdische Gemeinde die Institution nicht mehr tragen konnte, übertrug Galinski es in eine öffentliche Stiftung des Landes. Berlin sanierte in den 1970er-Jahren das Haus, recht funktional und nicht sehr ansehnlich.
Heute ist es nicht nur ein Akutkrankenhaus mit den Schwerpunkten Innere Medizin, Neurologie, Psychiatrie und Anästhesie. Noch immer kann sich jeder – gleich welchen Glaubens, gleich welcher Weltanschauung – im Jüdischen Krankenhaus behandeln lassen. Die Traditionen jüdischer Aufklärung, die Ideale des Humanismus kennen keine Ausgrenzung.
Zwar werden das Haus und seine Abteilungen von jüdischen Ärzten geleitet. Auf Wunsch erhalten Patienten jüdischen Glaubens auch koscheres Essen, und es ist der Ort in Berlin, an dem hauptsächlich die rituellen Beschneidungen an Jungen und männlichen Erwachsenen vorgenommen werden. Mehr noch verstehen sich die Klinik und ihre Leitung aber als „normale“ Klinik für jedermann. „Wir sind ein multikulturelles Krankenhaus“, sagt Sarah Singer, Vorstand der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. „Unsere Aufgabe besteht in der modernen medizinischen Versorgung und Spezialisierung, insbesondere im Bereich der Magen-Darm-Erkrankungen, die allen Menschen angeboten wird.“ Nach 250 Jahren ist das Jüdische Krankenhaus in der Normalität angekommen.
Im September zeigt das Jüdische Krankenhaus anlässlich seines 250-jährigen Jubiläums eine Ausstellung zur Geschichte des Hauses