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Archiv-Artikel

„Mit sich nicht eins, das kennt man doch“

Sein eigenes Bein anschubsen, Beziehungen als Hindernisläufe inszenieren, Individuen unter Glühbirnen zappeln lassen, dann wieder vor Zärtlichkeit zerfließen: Tanz braucht für die Choreografin Toula Limnaios keinen Vorwand. Mit ihrer Compagnie feiert sie jetzt zehnjähriges Bestehen. Ein Porträt

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Auf der Bühne weiß sie manchmal nicht, wohin. In ihrem Stück „Nichts. Ich werde da sein, indem ich nicht da bin“, das sich an einen Text von Samuel Beckett anlehnt, tanzt die Choreografin Toula Limnaios einmal ein Solo. Als wäre sie Puppe und Puppenspielerin zugleich und sich selbst uneins über Richtungen und Bewegungsverlauf, stößt sie ihre Glieder an, schnippt mit den Fingern, schubst sich, hilft mit den Händen dem Bein beim Schritt und dem Kopf beim Dreh. Voller Verzögerungen ist dieses Solo und von leisem, widerspenstigem Witz. „Das kennt man doch, wenn man mit sich selbst nicht eins ist“, sagt Toula Limnaios, „und das habe ich nirgends so knapp und auf den Punkt genau beschrieben gelesen wie bei Beckett.“

Im Leben aber hat die Choreografin Toula Limnaios, die jetzt das zehnjährige Bestehen ihrer Compagnie „cie. toula limnaios“ in Berlin feiert, ihren Weg gefunden. 20 abendfüllende Stücke hat die 1963 in Athen und früh mit ihren Eltern wegen der griechischen Diktatur nach Belgien emigrierte Limnaios in den letzten zehn Jahren umgesetzt. Ungefähr 80 Aufführungen zeigt ihre Truppe pro Jahr – das ist viel für eine freie Compagnie. Dieses Jahr sind sie schon in Athen, Caracas und São Paulo aufgetreten. Ein kleines monatliches Gehalt haben sich die fünf Tänzer sowie der Licht- und der Mediendesigner von Anfang an ausbezahlt. Mit den Gastspieleinnahmen und der Basisförderung vom Senat geht es dem Compagnie-Etat momentan sogar ein bisschen besser.

In Berlin hat Toula Limnaios mit ihrer Truppe 2003 eine eigene Spielstätte eröffnet: die „Halle“ in der Eberswalder Straße. Dort sind ihre Vorstellungen fast immer ausverkauft, 100 Zuschauer gehen rein, mehr nicht. Intim ist die Situation in dem ehemaligen Gymnastikraum, Publikum und Tänzer rücken sich nahe. „Das hat die Stücke verändert. Sie sind direkter und einfacher geworden“, sagt die Choreografin.

„short stories“ von 2005, das sie im Jubiläumsprogramm ab heute wieder aufführen, ist so ein Stück, das die Nähe untersucht und den Blick auf Beziehungen sehr scharf stellt. Schon das erste Duo beginnt mit einem Bild, das eine lange, komplizierte Geschichte eines Paares ahnen lässt. Er redet und redet, sie wirft sich hin, steht auf, wirft sich hin, steht auf. Beide strengen sich an und führen ihre Anstrengung dem anderen auch vor, zelebrieren geradezu die Verausgabung. Ihr Energieeinsatz ist hoch, das Spiel ist ernst, Punkte der Berührung aber werden immer wieder verfehlt – es sei denn, der eine wirft sich dem anderen als Hindernis in den Weg.

Eine deutliche Bewegungssprache, die dennoch nicht platt wird, zeichnet klar psychologische Strukturen nach. Zwischen Duetten und einem langen Solo sieht man die Tänzer einzeln im schmalen Lichtraum unter einer tiefgehängten Lampe zappeln: Sie können der Beobachtung nicht ausweichen, nicht der Kontrolle, nicht dem Druck. Alle ihre Bewegungen gleichen einem immer wieder verhinderten Fluchtimpuls. Zu den Beziehungen, die sie in „short stories“ bearbeitet hat, sagt die Choreografin, gehörten auch die zwischen ihr und ihren Tänzern. Und plötzlich ahnt man, wie viel Autorität und Beharrungsvermögen in dieser zierlichen Person mit den großen, dunklen Augen auch stecken muss.

In „short stories“ spielt Ralf R. Ollertz Bandoneon und Schlagwerk. Er erzeugt einen oft bedrängenden Sound: minimalistisch, insistierend und sich steigernd wie eine Sirene, unheimlich und dann wieder in weiter Ferne verebbend, als ob man dem Gesang der Wale zuhört. Ralf Ollertz ist Mitbegründer der Compagnie, ihr Komponist seit zehn Jahren, noch länger der Freund von Toula Limnaios und inzwischen auch Compagnie-Manager. Seine elektroakustische Musik hat viele ihrer Stücke sehr geprägt. Sie greift oft noch weiter in den Raum aus als der Tanz und wirft andere Assoziationen ins Spiel.

Fast nie stehen dabei Musik und Tanz in einem einfach illustrativen Verhältnis zueinander. Ich habe manchmal nicht verstanden, warum die Kompositionen so breiten Raum in den Stücken einnehmen – für Limnaios und Ollertz aber ist die Eigenständigkeit der beiden Bestandteile und ein ständiges Aushandeln von Positionen das Entscheidende. „Manchmal bewegt sich das in Wellen, wo beide Elemente miteinander einverstanden sind und wo sie sich streiten“, sagt Toula Limnaios, und man glaubt, einen leicht französischen Akzent in ihrem Deutsch zu hören.

Die Sehnsucht ihrer Eltern nach der Heimat in Griechenland, literarische Vorlagen von Beckett oder Dostojewski, einfach nur ein Schwindelgefühl: Die meisten Stücke der Choreografin haben einen Referenzpunkt außerhalb des Tanzes. Oft werden sie als Nocturnos beschrieben – den Nachtseiten des Menschen zugewandt, den Ängsten, den Verlusten, der Auflösung. Sie sind aber meistens auch von einer großen Sehnsucht nach Schönheit und Zärtlichkeit geprägt, von fließenden Bögen und Linien, die sich wiederholen und fortentwickeln wollen und eigentlich gar keinen weiteren Vorwand brauchen, um zu sein.

3.–6. August: „short stories“; 9. und 10. August: „vertige“, jeweils 21 Uhr, Halle, Eberswalder Str. 10–11