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Archiv-Artikel

Echtzeit gegen Kontemplation

MUSIKKRITIK 9 Das Internet ist zum Teilchenbeschleuniger unseres medial gesteuerten Popalltags geworden. Dank Netz können wir uns nun überall hinbeamen, aber ist das für kritische Distanz nicht ein bisschen zu viel?

Autoren und Debatte

Sarah Brugner (geboren 1985) lebt in Wien. Sie studiert Philosophie und betreibt den Musikvideoblog www.theyshootmusic.com.

■ Elias Kreuzmair ist 1986 geboren und lebt in München. Studium der Literatur und der Soziologie. Als Teil eines Studierendenkollektivs gibt er die Reihe „Unbedingte Universitäten“ mit heraus.

■ Beiträge bisher: Wolfgang Frömberg (30. 3.), Jörg Sundermeier (9. 4.), Hannah Pilarczyk (16. 4.), Nadja Geer (23. 4.), Max Dax (11. 5.), Sonja Eismann (26. 5.), Geeta Dayal (16. 6.), Christian Ihle (22. 7.)

VON SARAH-ANTONIA BRUGNER UND ELIAS KREUZMAIR

Wir müssen kein MTV mehr schauen. Wir müssen kein Radio mehr hören außer dem, das wir hören wollen oder das wir uns selbst machen. Das Internet ist größer als die Popsehnsuchtsorte New York, London und Manchester zusammen. Die Szenen, die unser Leben sind, sind dank Netz größer, als sie es jemals waren. Im Internet sind die Stile zugänglicher geworden; sie haben sich multipliziert. Bands wie Frittenbude konnten die meistgeklickte Band auf Myspace werden, ohne je relevant in der Musikpresse besprochen worden zu sein.

Im Internet präsentiert man sich auf eigenen Homepages oder diversen Social-Networking-Plattformen, lädt MP3s, Konzertaufnahmen hinauf und wünscht sich als noch eher unbekannter Künstler (der die Einbußen der Internetpiraterie deswegen weniger zu fürchten hat, weil er ja erst mal in aller Munde sein muss, um mit seiner Musik überhaupt Einnahmen machen zu können), dass sich dieses Material gewissermaßen verselbstständigt und seiner Musik Aufmerksamkeit bringt.

Zahlreiche Erwähnungen eines Künstlers durch diverse Blogs erzeugen einen Buzz. Manchmal entsteht durch diese Aufmerksamkeitsökonomie dann ein richtiggehender Hype um eine Band. Der neue heiße Scheiß wird nicht im Print, sondern im Netz geboren. Die Hype Machine, die eine Zusammenstellung der „most blogged artists“ bereithält und als einfach bedienbare Suchmaschine unzählige Blogs nach bestimmten Künstlern, Nummern und Alben durchsuchen lässt, spiegelt dieses Phänomen wider.

Die Erwähnung eines Künstlers auf dem US-Musikblog „Pitchfork“ zählt in popkulturell interessierten Kreisen oft mehr als diverse Rezensionen in einschlägigen Printmedien. „Pitchfork“ stellt sehr erfolgreich und sehr umfassend Albumrezensionen ins Netz und wird dem Medium Internet als schneller Informationsaufbereiter gerecht, indem es den Alben eine Bewertung zwischen eins und zehn verleiht. Dort tritt vielleicht das Musikkritiker-Individuum hinter das Blogkollektiv zurück. Das Netzmagazin „Pitchfork“ ist nur ein Beispiel dafür, dass Musikkritik auch in Form der ganz klassischen Albumrezenion weiterhin prächtig blüht.

So wie der Buchdruck eine Wissensrevolution ausgelöst hat, birgt die breitenwirksame Nutzung des Internets ein riesiges Potenzial. Das Internet ist ein Medium der Unmittelbarkeit und ungeschlagen darin, einen direkten Draht – in diesem Fall zwischen Künstler und Fans – herzustellen, up to date zu sein, und in der Möglichkeit, Textkomponenten audiovisuell zu erweitern.

Gleich den Prerelease-Track zu hören, den Livemitschnitt vom letzten Auftritt zu sehen und gleich zu lesen, was die Band soeben twittert – das sind für den musikinteressierten Internetnutzer unglaubliche zeitliche Zugewinne.

Auf Augenhöhe

Und dieser Zugriff ist keineswegs exklusiv, Musikkritiker haben über weite Strecken dieselben Quellen zur Verfügung wie interessierte Musikhörer. Bei der jüngsten Albumveröffentlichung von LCD Soundsystem hat James Murphy Albumtitel und Artwork zu einem Zeitpunkt auf sein Facebook-Profil gepostet, zu dem Label und Promotionabteilung offiziell noch keine Auskunft an Medien erteilen durften. Da fällt ein Teil der Vermittlerrolle von Musikkritik einfach flach.

Doch gibt es natürlich trotz aller Demokratisierung Gatekeeper, die einem zwar nicht von oben herab Musik erläutern, sondern glaubwürdig und auf Augenhöhe ihre persönlich motivierte Auswahl gut begründen und legitimieren. Popkritik ist also weiterhin in ihrer einfachen (als Präsentation neuer spannender Musik) wie komplexen (als Herstellen von Zusammenhängen) Form wichtig.

Das Internet ist überfüllt mit Beispielen von Lebensmöglichkeiten, die Pop bereitstellt. Dieses Reservoir an Lebensentwürfen ist es, das das Versprechen der Revolution durch Pop abgelöst hat. Vielleicht war die Möglichkeit, zu leben, schon immer das, was das Versprechen der Revolution konkret bedeutete. Gerade durch die Möglichkeit eines unmittelbareren Zugangs zu Künstlern und Musik wird dieser Effekt verstärkt. Der Aufwand bei der Produktion von Musik ist dank Digitalisierung und Internet geringer geworden, und ihre einfache Verfügbarkeit hat den Effekt, dass die Frage nach Produktions- und Distributionsbedingungen in den Hintergrund rückt.

Man kann den Mainstream ohne Probleme ignorieren und sich völlig in eine Welt der Subkulturen begeben

Was bedeutet das für das Pop-Feuilleton, für die Musikkritik? Die Schnittstellen zwischen Künstlern, Leben, Städten liegen an anderen (virtuellen) Orten. Es sind größere Netzwerke und Verbindungen möglich. Trotzdem gibt es noch so etwas wie regionale Sounds. Es ist ein Dickicht, das um so mehr Sammler und Detailwissen erfordert und das um so genauer analysiert werden muss. Ob der geeignete Ort für eine solche Analyse das Feuilleton einer Zeitung ist, ist freilich fraglich – das heißt aber nicht, dass das nicht funktionieren kann. Spannender sind auf jeden Fall Projekte wie der Blog „Altered Zones“, der Schreiber verschiedener Blogs vereint und sich der Do-it-yourself- und der Low-Fidelity-Szene im Netz widmet. Dass bei solchen Analysen die Frage der Subversion in den Hintergrund rückt, hat vor allem einen Grund: Man kann den Mainstream ohne Probleme ignorieren und sich völlig in eine Welt der Subkulturen begeben. Es ist nicht nötig, Madonnas Lebensweise der ständigen Selbsterfindung in die feministische Kritik einzubeziehen. Man findet tausend bessere, passendere und vor allem ernst gemeinte Beispiele. Wir haben eben die Aus-Wahl.

Bei allem Lob des Netzes, eines sollte nicht vergessen werden: Auch die vermeintliche Freiheit im Internet ist von ökonomischen Interessen durchtränkt. Offensichtlich wird das an Phänomen wie den Apps, den kleinen Programmen für Smartphones, die meist wenig, aber doch etwas kosten. Oder an den Pay Walls, die beispielsweise Zeitungen in ihre Websites integrieren, sodass man für den Zugang bezahlen muss. So ist das bei der Londoner Times-Ausgabe, die Medien-Tycoon Rupert Murdoch gehört, der Fall. Ebendieser Murdoch hat sich übrigens das soziale Netzwerk Myspace gekauft, für zig Millionen US-Dollar.

Bewusst Ausblenden

Sich online mit Musik zu beschäftigen impliziert darüber hinaus die Notwendigkeit, multitaskingfähig zu sein. Man hört sich einen Konzertmitschnitt an und überfliegt gleichzeitig eine knapp gefasste Rezension der Veranstaltung, die mit viel Bildmaterial unterlegt ist. Manchmal guckt man sich gleichzeitig ein Video dazu an. Man denkt sich „Klasse!“ und twittert das in Echtzeit an seine Follower. Jemand reagiert wiederum auf den Tweet, und man findet sich in dem eigentlichen Moment, wo man etwas auf sich wirken lassen wollte, vielfältig abgelenkt wieder. Die Möglichkeiten der Zerstreuung und Kurzweil sind im Internet ungleich größer. Eine fundierte Musikkritik bedarf jedoch auch der Momente, in denen man sich auf einen längeren, hintergründigen Text einlässt und diverse Pop-ups drum herum bewusst ausblendet.

Um sich substanzielle Gedanken über Musik zu machen, braucht es keine Echtzeit, keine Comments, keine Tag-Vorschläge und keine Like-Buttons. Es braucht Augenblicke zum Verweilen, es braucht Kontemplation.