„Elterngeld ist ein Rückschritt“


„Das Elterngeld geht zu Lasten von Hartz-IV-Empfängern. Obwohl frauenpolitisch in Ordnung, liegt die Bundesregierung hier falsch“„Man muss die Kinder fördern, damit sie eine Chance haben. Damit Armut nicht von Generation zu Generation weitergegeben wird“

INTERVIEW LUTZ DEBUS

taz: Herr Hilgers, wie geht es den Kindern in NRW?

Heinz Hilgers: Zahlen für Nordrhein-Westfalen liegen mir nicht vor. Ich kann Ihnen etwas über die Kinder in Deutschland sagen, und das lässt sich in etwa auf unser Bundesland übertragen. Rund zwei Drittel der Kinder geht es ganz gut. Die fahren mit ihren Eltern zwei, drei Mal im Jahr in Urlaub, sind weltweit vernetzt, finden vielleicht sogar ihren Weg durch das deutsche Bildungswesen, machen gute Abschlüsse und werden auch beste Zukunftschancen haben. Chancen wie keine Generation zuvor. Aber es gibt in Deutschland auch 2,5 Millionen Kinder, die auf Sozialhilfeniveau leben. Wir wissen, dass diese Kinder in unserem Bildungswesen keine Chance haben. Nur in wenigen Ausnahmefällen kommen sie zu guten Abschlüssen. Das hat die PISA-Studie eindrucksvoll bewiesen. Auch gesundheitlich geht es diesen Kindern nicht gut. Sie werden falsch ernährt, sind öfter krank, Vorsorgeuntersuchungen werden weniger wahrgenommen.

Aber die kosten doch nichts.

Ja, aber wenn Eltern von langer Arbeitslosigkeit betroffen sind, ist der Antrieb nicht da, sich um alles zu kümmern. Und so haben manche Kinder schon früh Krankheiten, die sie in ihrer Entwicklung einschränken. Weltweit vernetzt sind arme Kinder ohnehin nicht. Und die Jeans, die abends gewaschen wurden, kommen auf die Heizung, damit sie am nächsten Morgen wieder angezogen werden können. Man geht zu den Geburtstagsfeiern nicht hin, weil man kein Geschenk hat. Man nimmt an den Klassenfahrten nicht teil. Das Ergebnis: Wir ziehen von den 15 Millionen Kindern, die wir in Deutschland noch haben, 2,5 Millionen nicht zu Leistungsträgern, sondern zu Leistungsempfängern heran. Wir verspielen systematisch die Zukunft dieser Kinder. Wenn es nicht gelingt, die wirtschaftliche Lage der Eltern zu verbessern, sollte man wenigstens den Kindern unabhängig von der Erwerbssituation der Eltern eine Chance geben.

Wie könnte das aussehen?

Das fängt an mit Ganztagsplätzen in Krippen, Kindertagesstätten und Schulen. Die Debatte in Deutschland wurde in der Vergangenheit eher frauenpolitisch geführt. Die Vereinbarung von Familie und Beruf war immer die Zielvorstellung. Und das ist auch wichtig. Aber gerade die Kinder, deren Eltern beide zu Hause sitzen, weil sie arbeitslos sind, brauchen einen Platz in der Ganztagsschule, damit sie in einem anregungsreichen Umfeld groß werden. Damit sie morgens ihr geregeltes Frühstück bekommen, mittags ein warmes Essen. Damit der Sportverein und die Musikschule in die Schule kommen und offensiv auf die Kinder zugehen – und das kostenfrei. Denn diese Kinder werden nicht nach den Hausaufgaben von ihren Eltern zu solchen Angeboten gefahren. Auch Hausaufgabenhilfe ist wichtig. So kann man etwas Chancengleichheit herstellen.

Sie sagten gerade, dass arme Kinder öfter krank sind?

Der Bund sollte die Vorsorgeuntersuchungen verbindlicher machen. Sanktionen sollten dabei allerdings nicht angedroht werden, diese Eltern haben eh kein Geld, so eine Strafe zu bezahlen. Der Gesetzgeber könnte es ermöglichen, dass ein Jugendamt zur Not ein Kind zur Vorsorgeuntersuchung bringen kann.

Also mehr Staat, weniger Familie?

Das ist überzogen. Aber ein Kind hat nach der UN-Konvention über die Rechte der Kinder ein eigenständiges Recht auf die bestmögliche gesundheitliche Versorgung. Und dieses Recht gilt im Zweifel auch gegen die Eltern. Ein Zehnjähriger, der den Ball immer auf die Fingerspitzen kriegt, wird gehänselt, ausgelacht. So etwas kann man bei der Vorsorgeuntersuchung entdecken und frühzeitig dagegen arbeiten. Es gibt Kinder, die hören nicht gut. Das wird oft viel zu spät festgestellt. Kinder mit Sprachproblemen kann man mit zwei, drei Jahren gut behandeln. Wenn sie aber sieben Jahre alt sind, wird das schon schwieriger.

Es gibt das Schlagwort von der „Armutsursache Kind“. Trifft das zu?

Das ist der eigentliche Skandal. Wenn Sie 2.500 Euro brutto verdienen, müssen Sie trotzdem ergänzende Sozialleistungen in Anspruch nehmen, sollten Sie vier oder fünf Kinder haben. Das deutsche Sozialsystem kommt zu dem Ergebnis, dass jemand, der 2.500 Euro brutto verdient – was ja über dem Durchschnitt liegt –, sich keine fünf Kinder leisten kann. Die Menschen werden wegen ihrer Kinder arm. Das stellt sich völlig anders dar, als die Bundesgesundheitsministerin behauptet. In Frankreich wird niemand wegen der Kinder arm, in Skandinavien auch nicht. Die Franzosen geben nicht mehr Geld aus, sie verteilen es anders. Die helfen den Bedürftigen.

Wenn das hier jemand fordert, lautet die Antwort immer: Es ist kein Geld da.

Das stimmt ja nicht. Wenn wir die Splittingtabelle zur Disposition stellen, wenn also Eltern, die 100.000 Euro verdienen, nicht immer noch über die Freibeträge quasi mehr Kindergeld bekommen, ist Geld genug da.

Die Politik geht aber in eine andere Richtung: Wohlhabende Eltern werden in Deutschland eher besonders gefördert.

Man hat den Eindruck. Auch das Elterngeld ist so konzipiert und geht zu Lasten der Hartz-IV-Empfänger. Da liegt die Bundesregierung falsch. Frauenpolitisch ist das zwar in Ordnung, aber kinderpolitisch ist das ein Rückschritt.

Wie gelingt Ihnen der Spagat als Sozialdemokrat und als Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes?

Da habe ich eine klare Priorität. Da mache ich keinen Spagat. Die SPD ist vor der Kritik des Kinderschutzbundes nicht gefeit. Im Gegenteil, ich kritisiere die Sozialdemokraten eher heftiger. Ich habe im Bund die rot-grüne Regierung heftig kritisiert, davor habe ich die schwarz-gelbe Regierung kritisiert und nun kritisiere ich die Große Koalition. Die ist jetzt in der Verantwortung. Und wer in der Verantwortung ist, muss mit der Kritik leben.

Wie geht es Ihnen da mit der Landesregierung?

Auch die kritisiere ich, obwohl ich das eine oder andere, das Herr Laschet (NRW-Familien- und Integrationsminister, CDU; d. Red.) macht, interessant finde. Jetzt kommt es darauf an, dass aus den Modellen Flächen deckende Angebote werden. Fünf Modelle zu unterstützen, ist leicht. Daraus aber 6.000 Angebote zu machen, ist eine andere Aufgabe. Laschet wird sich daran messen lassen müssen, ob es ihm gelingt, aus den wenigen guten Modellen – zum Beispiel bei der Frühförderung oder bei den Familienzentren – ein Flächen deckendes Programm fürs Land zu machen. Daran werden wir ihn in zwei Jahren erinnern.

Familienzentren taugen was?

Ja. Aber es werden nur vier, fünf Einrichtungen gut gefördert. Die anderen 150 bekommen ein Fortbildungsangebot und ein neues Schild an die Tür. Da ist noch nicht die richtige Förderung da. Viel größere Sorgen bereitet mir allerdings die Bildungspolitik.

Aus welchem Grund?

Da gibt es ein paar katastrophale Entscheidungen. Der Wegfall der Schulbezirksgrenzen etwa wird zu einer weiteren Ghettoisierung im Lande führen. Ich kann das für meine Stadt Dormagen mit einem Beispiel beschreiben. Wir haben hier einen Stadtteil, Hackenbroich, gleich nebenan liegt Delhoven. Hackenbroich ist im Programm „soziale Stadt“, Delhoven ist eine Einfamilienhaussiedlung, in der die Einkommen im Kreis Neuss mit an der Spitze liegen. In Delhoven an der Grundschule wird ein ganzer Zug frei. Ich bin sicher, dass Kinder aus Hackenbroich dort angemeldet werden.

Die es sich leisten können?

Die, deren Eltern es sich leisten können, ihre Kinder mit dem Auto zur Schule zu bringen. Die nicht wollen, dass ihre Kinder mit anderen Hackenbroicher Kindern in eine Klasse gehen. Weil es dort viele Kinder gibt, deren Eltern von Sozialhilfe leben, die einen Migrationshintergrund haben.

Welche weiteren schulpolitischen Katastrophen sehen Sie?

Die Einschulung mit fünf Jahren halte ich für schlecht. Das ist zu starr gehandhabt. Dazu kommt, dass dann mit neun Jahren schon über die Schullaufbahn entschieden wird. Und mit 13, 14 Jahren wird entschieden, wie es in der Oberstufe weiter geht. Bei Jungs ist das gerade die Zeit, in der die Hormone völlig ausflippen. Das wurde ohne Respekt vor den Interessen der Kinder entschieden. Genauso wie bei Hartz IV ohne Respekt vor den Bedürfnissen von Kindern entschieden worden ist. In völliger Weltfremdheit hat man die einmaligen Beihilfen pauschalisiert. Man hat gesagt: Wir schaffen die Bekleidungsbeihilfe ab und geben dafür 10, 15 Euro mehr im Monat. Ein Kind aber bekommt immer nur 60 Prozent der Leistungen. Nun haben Kinder die unangenehme Angewohnheit, dass ihre Füße wachsen. Auch beim Schreibbedarf bekommt ein Kind 60 Prozent dessen, was ein Erwachsener bekommt. Wir werden spätestens im nächsten Winter erleben, dass Kinder in Sandalen zur Schule kommen.

Nun sollen die Leute ja durch Leistungskürzungen motiviert werden, sich Arbeit zu suchen.

Das ist völlig daneben. Wir müssen die Arbeitslosigkeit annehmen. Was heißt das? Man muss Arbeitslosen ein menschenwürdiges Leben geben, ihnen Arbeit geben im gemeinnützigen Bereich. Und man muss ihre Kinder fördern, damit sie eine eigene Chance haben, damit Armut nicht von Generation zu Generation weitergegeben wird.