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Archiv-Artikel

„Eine Kapitulation kann man nicht erreichen“

Erst wenn auch die Palästinenser ihren souveränen Nationalstaat bekommen haben, kann ein transstaatlicher Friedensprozess wirklich erfolgreich sein, meint der renommierte israelische Historiker Moshe Zimmermann

taz: Herr Zimmermann, in Umfragen erklären sich 80 Prozent der israelischen Bevölkerung mit dem Vorgehen ihrer Armee im Libanon einverstanden.

Moshe Zimmermann: Es ist ist sogar noch extremer – wenn Sie berücksichtigen, was die restlichen 20 Prozent der Israelis denken. Zumindest ein Teil von ihnen hätte sich ein noch härteres Vorgehen gegen die Hisbollah gewünscht. Ich halte das für eine typische Reaktion eines Volks im Belagerungszustand. Man schafft eine Solidarität für den Krieg, die Skepsis ist marginalisiert. Deshalb ist es im Moment so schwer, abweichende Meinungen zu vertreten.

Wie erklären Sie sich das?

Die Juden, heißt es, haben 2.000 Jahre lang auf die Gründung eines Staates gewartet. Jede Verletzung dieses Staates gilt als Verletzung einer sakrosankten Idee, deswegen muss man heftig reagieren. Die Europäer haben nach 1945 gelernt, dass der Staat zu viel Macht in Anspruch genommen hat, und deshalb supranationale Formationen wie die Europäische Union geschaffen. Das ist für Israelis bestenfalls Zukunftsmusik.

Was müsste geschehen, damit sich das israelische Staatsverständnis ändert?

Zum einen müsste man den Staat Palästina gründen, zum anderen müssten die Staaten um Israel herum ihre religiösen Fundamente aufgeben. Erst dann werden transstaatliche Formationen in der Region akzeptabel sein – für beide Seiten.

Um den souveränen Nationalstaat zu überwinden, muss man ihn erst mal gründen?

Das sind zwei Schritte. Der erste Schritt ist noch nicht getan, die Palästinenser haben ihren noch nicht bekommen. Erst wenn das erreicht ist, kann man über den zweiten Schritt reden.

Stimmt es überhaupt, dass sich die Europäer vom starken Staat schon verabschiedet haben – oder ist seit den Terroranschlägen von Madrid und London nicht eher das Gegenteil der Fall?

Das ist die Antwort der Israelis auf Kritik aus Europa: Seht euch an, was ihr selbst tut, wenn ihr mit der islamistischen Herausforderung konfrontiert seid! Wenn man in London auf offener Straße einen Verdächtigen erschießt, nur weil man Angst vor Terroristen hat – dann zeigt der Staat wieder den Machtanspruch, den er im Rahmen der transstaatlichen Politik angeblich schon aufgegeben hat.

Lassen sich der Nahostkonflikt und Anschläge in Europa denn so umstandslos in eins setzen als globaler Terror?

Von einem „Kreuzzug gegen den Terror“ würde ich nicht sprechen, von einer globalen Herausforderung schon. Es gibt auf der einen Seite die moderne Welt, die Spaßgesellschaft – und auf der anderen Seite die Gesellschaften, die den Modernismus ablehnen und im religiösen Fundamentalismus nach alternativen Grundlagen suchen.

Welche Rolle spielen die USA im aktuellen Konflikt?

Die USA betrachten Israel als verlängerten Arm im gemeinsamen Kampf gegen den fundamentalistischen Terror. Deshalb hat Israel freie Hand für sein Vorgehen, solange man es gegenüber der amerikanischen Öffentlichkeit als Kampf gegen den Terror darstellen kann.

Es ist also vorerst nicht damit zu rechnen, dass die USA mäßigenden Einfluss ausüben?

Sie wollen den Krieg irgendwann zu einem Ende bringen, und sie wollen auch den Europäern zeigen, dass sie sich um Frieden bemüht haben. Aber sie werden versuchen, am Ende dieser Phase nicht nur Israel gewinnen zu lassen, sondern auch sich selbst.

Wie könnte ein solcher Gewinn aussehen?

Ideal wäre es, wenn Israel den Amerikanern bei der Lösung des Irakproblems helfen könnte. Aber die USA haben schon etwas gewonnen, wenn sie nachher bessere Beziehungen zu Syrien haben. Oder wenn sie sich gegenüber dem Iran einen Vorteil verschaffen.

Haben die USA dafür einen Plan?

Das bezweifle ich. Sie haben einen strategischen Fehler begangen: Sie haben statt des Iran den Irak angegriffen.

Soll das heißen, die Amerikaner hätten den Iran angreifen sollen?

Das nicht, aber sie hätten den Irak nicht angreifen sollen. Weil die USA dort im Schlamassel stecken, ist der Iran mutiger geworden – und kann ohne Weiteres die Hisbollah unterstützen.

In Deutschland ist die Bevölkerung mehrheitlich gegen das israelische Vorgehen, die Politik hält sich aber sehr zurück. Ist das aus historischen Gründen das einzig mögliche Verhalten?

Eine Regierung erwägt nicht nur die Bilder, sondern auch die Interessen und die besonderen Beziehungen zu Israel. Die deutsche Regierung betrachtet die Raketen der Hisbollah als eine echte Bedrohung Israels und muss auch auf diese Herausforderung eine Antwort finden.

Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul hat viel Prügel bezogen, weil sie Israel gleich zu Kriegsbeginn einen Bruch des Völkerrechts vorgeworfen hat. Darf eine deutsche Politikerin so etwas sagen?

Sie darf, aber sie muss es dann auch nachweisen können. Das hat man bei Wieczorek-Zeul bemängelt: Sie hat ignoriert, dass die Provokation von der anderen Seite gekommen ist.

Könnten sich deutsche Soldaten an einer etwaigen UN-Truppe im Südlibanon beteiligen?

Auf den Golanhöhen wurde bereits eine österreichische Einheit stationiert, und Österreich war ja auch ein Teil des Dritten Reichs. Von daher ist anzunehmen, dass Israel auch eine Teilnahme der Bundesrepublik akzeptieren würde. Das Problem ist aber nicht die Beteiligung Deutschlands, sondern der Sinn einer solchen Truppe überhaupt.

Warum?

Der souveräne Staat ist in dieser Region der Schlüssel zu allem. Man muss dafür sorgen, dass der souveräne Staat Libanon für seine Grenzen haftet. Das Gerede über diese internationale Schutztruppe ist der Versuch, eine Zwischenlösung hineinzuschieben, weil man die eigentliche Lösung nicht gefunden hat.

Kann die libanesische Armee das auf absehbare Zeit leisten?

Wie sagt man im Fußball: Kreatives Denken ist erforderlich. Das bedeutet, dass man die Schiiten im Libanon für eine neue Regelung gewinnt. Da wird Israel sehr zurückhaltend sein, aber das ist dann eben die Rolle von Amerikaner und Europäern.

Sie haben die israelische Politik oft mit den Verhältnissen in der Weimarer Republik verglichen. Hilft diese Analogie in der aktuellen Lage denn noch weiter?

Schon. Nach dem Versailler Vertrag kam in Deutschland die Legende vom Dolchstoß auf: Wir wurden eigentlich nicht besiegt. Daraus zogen die Beteiligten auf beiden Seiten den Schluss, dass man Kriege eindeutig gewinnen muss. Heute fürchtet Israel ein „Unentschieden“, das die Hisbollah als Sieg auslegen wird. Deshalb verlangt man nach einem klaren Entweder-oder, nach einer bedingungslosen Kapitulation wie 1945. Und wenn es nicht gelingt, steht die Ausrede parat – es ist der Dolchstoß, den die Linke verübt hatte.

Trifft dieser Schluss denn zu?

Ich halte das für eine Illusion. Anders als im Fußball gibt in einer solchen Auseinandersetzung keine klaren Gewinner und Verlierer. Eine bedingungslose Kapitulation kann man hier nicht erreichen, ganz bestimmt nicht gegen eine bewaffnete Miliz.

INTERVIEW: RALPH BOLLMANN