Abklatsch ohne künstlerische Wahrheit

AUSSTELLUNG In der Berliner Akademie der Künste am Hanseatenweg geht die Schau „lens-based sculpture“ den Veränderungen im Umgang mit der Skulptur nach, die sie durch das neue Medium der Fotografie erfuhr

VON RONALD BERG

Der Mensch ist nicht nur Produzent, sondern zugleich Produkt seiner Technik. Als „nicht festgestelltes Tier“ (Nietzsche) schafft er sich Instrumente, die ihn und seine Lebens- und Denkweise verändern. Das nennt man Geschichte.

Eines der einflussreichsten Ereignisse – nicht nur für die Technikgeschichte – war die Erfindung der Fotografie. Das technische Bild hat nicht nur die Wahrnehmung erweitert, es hat auch neue Weisen des Denkens und Handelns erzeugt. Das gilt auch und zumal für die Kunst. Die Bezeichnung des Bildhauers August Rodin als „Fotograf“ war um 1900 ein Verdikt. Denn einige seiner Kritikern glaubten, der Künstler habe seine überaus lebendig wirkenden Plastiken durch direkte Abformung vom Körper hergestellt. Das Fotografische konnte demnach nur einen Abklatsch liefern, ohne die Wahrheit der künstlerischen Beseelung.

Ob Rodins glücklich darüber wäre, nun in einer Ausstellung vertreten zu sein, die dem Einfluss der Fotografie auf die Skulptur nachgeht, ist zweifelhaft. Gehörte er doch selbst zu jenen Kritikern, die den angeblich so exakten Lichtabdrücken im Foto tiefere Wahrheit rundweg absprachen. Der von Rodin in Gips abgeformte Bademantel von Honoré de Balzac steht in der aktuellen Akademie-Ausstellung „lens-based sculpture“ daher einmal mehr für das Fotografische als Metapher – für den Abklatsch, die Abformung, den Abdruck, kurz: für eine Technik, die technisch wiederholt, statt künstlerisch zu schöpfen.

Die Chronofotografie

Doch nach 100 Jahren haben sich die Vorzeichen verändert. Der Abklatsch als bildhauerische Technik ist längst kein Verdikt mehr. Rodin interessiert als Gegenfigur zu jeden Künstlern, die auf die Chronofotografie eines Étienne-Jules Marey reagierten. Die von ihm ab den 1880er Jahren im Foto festgehaltenen Phasen menschlicher und tierischer Bewegung führten zu einem Epochenbruch in der Geschichte der Skulptur. Das ist die These der von den beiden Akademie-Mitgliedern und Bildhauern Raimund Kummer und Bogomir Ecker zusammen mit den Kunsthistorikern Herbert Molderings und Friedemann Malsch konzipierten Ausstellung. Ohne Fotografie und Film wäre die Entwicklung der Skulptur weg vom Statuarischen und herunter vom Sockel undenkbar.

Aus dem Jahr 1913 stammt die früheste Arbeit der Schau: die Bronzefigur eines Ausschreitenden von Umberto Boccioni, bei der verschiedene Phasen der Bewegung gleichsam flatterhaft am Körper mitschwingen. 1914 schafft Raymond Duchamp-Villon eine Pferdeplastik, die die bei Marey abgeschauten Bewegungsphasen so weit abstrahiert, dass er sie mechanisch mit einer Art Kurbelwelle versehen konnte. Der Bruder Marcel Duchamp geht zur gleichen Zeit noch weiter und findet für die Darstellung von Bewegung eine sich drehende Fahrradfelge, die er in ironischer Anspielung statt auf einen Sockel auf einem simplen Schemel fixiert. Readymade und kinetische Skulptur sind erfunden. Es sollte aber noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg dauern, bis Marcel Duchamps Impetus zur Weiterentwicklung der Skulptur in den künstlerischen Mainstream einmündete und Fotografie und Film für die Bildhauer so unentbehrlich wurden wie einst Hammer und Meißel.

Die mit rund 200 Arbeiten von 70 Künstlern opulent bestückte Schau widmet sich im Wesentlichen dieser Entwicklung ab den 60er Jahren. Hier geht es etwa um die Frage nach der Darstellung des Bildraums durch die Bildhauerei, wie ihn die Fotografie eröffnet hat. Das meint nicht nur die einfache Tatsache, dass viele Bildhauer eben nach Fotovorlagen arbeiten. Hermann Pitz interpretiert den Bildraum tatsächlich ganz plastisch, wenn er das Innere von alten Boxkameras in Gips gießt. Für viele Bildhauer, die in der Nähe zur Performance oder mit temporären Interventionen arbeiten, ist die Fotografie das Einzige, was am Ende übrig bleibt. Ob Ana Mendieta ihr Gesicht für die Kamera gegen eine Glasscheibe presst oder ob Michael Asher einen Wohnwagen in Münster parkt, solch plastische Aktionen wäre ohne Fotos auch in dieser Ausstellung unsichtbar.

Ein ganzes Kapitel greift den Einfluss der Fotografie auf die Skulptur eben von der metaphorischen Seite auf und versammelt Abgüsse, Abdrücke und Abklatschverfahren von der Reifenspur in Polyesterfarbe von Sabine Groß bis zu Ron Muecks Nackten und ihrem bis in die kleinsten Hautfalten und Härchen wiedergegebenen Körper, die er entgegen dem Eindruck dann doch selbst modelliert hat.

Jüngere Künstler sind in der Schau kaum vertreten, vielleicht weil ihnen der allgegenwärtige Bilderkosmos kaum mehr fragwürdig erscheint und das Plastische als Lehrstelle gegenwärtiger Welterfahrung gar nicht auffällt. Wenn man am Ende der Ausstellung einen Haufen Krimskrams aus kaputtem Kamera-Equipment, Sonnenbrillen und Gummimatten von Cady Noland am Boden vorfindet, der wie das verlassene Lager eines Paparazzo aussieht, liest sich das wie ein ironischer Hinweis auf die materielle, schmutzige und vielfach banale Wirklichkeit hinter den Bildern, deren plastische Qualität sie mit dem Sujet der Bildhauerei teilt.

Inzwischen kann selbst das Plastische technisch hergestellt werden, wie Karin Sanders 3-D-Ausdruck einer „Familie“ zeigt, die dabei allerdings auf Zwergenformat geschrumpft ist und deshalb so komisch wie unheimlich aussieht. Welchen Einfluss werden solche nicht mehr handgemachten Skulpturen haben? Sind sie womöglich das Analogon zum Aufkommen des technischen Bilds der Fotografie?

■ Bis 21. April: AdK Berlin. Katalog (Walther König) 39 bzw. 49 Euro