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Archiv-Artikel

„Sie sind wie Schafe ohne Hirten“

Imam Abdul Basit Tariq

„Wenn die Jungen und Mädchen ins Pubertätsalter kommen, empfiehlt uns der Islam, sie in bestimmten Angelegenheiten zu trennen, damit die Sexualität nicht unzeitig und unnötig angeregt wird“

Er will einen Ort der Begegnung bauen, doch Anwohner fürchten Ausländer und religiöse Fanatiker in ihrem Stadtteil. Abdul Basit Tariq ist Imam der Ahmadiyya Muslim Gemeinde Berlin. Sie ist sehr konservativ und wird von anderen islamischen Gläubigen als abtrünnig angesehen. Die Ahmadiyya planen in Heinersdorf den ersten Moscheebau in Ostdeutschland. Der gebürtige Pakistaner studierte Religionswissenschaften an der Ahmadiyya-Universität und danach Germanistik in Islamabad. Er lebt seit 25 Jahren in Deutschland und ist seit 1998 deutscher Staatsbürger. Der 58-Jährige ist Vater von zwei Kindern, die hier Abitur gemacht haben.

Interview Alke Wierth

taz: Herr Tarik, mögen Sie die Heinersdorfer?

Abdul Basit Tarik: Die Menschen aus Heinersdorf, die ich kennen gelernt habe, sind nett und freundlich. Natürlich haben sie Angst vor Islamisten und dadurch vor dem Islam und einer fremden Gemeinde. Aber es sind gebildete, höfliche und freundliche Leute. Doch es gibt auch einige, die nicht so sind.

Wenn Sie nach Heinersdorf fahren, wo Ihre Gemeinde eine Moschee bauen möchte – mit welchen Gefühlen fahren Sie dorthin?

Zum einen spüre ich Aufregung und Freude, denn dort möchten wir eine Moschee bauen, die ein Ort der Begegnung verschiedener Kulturen und Menschen verschiedenen Glaubens sein soll. Aber ich spüre auch Besorgnis. Manchmal überwiegt meine Freude meine Ängste, und manchmal überlagern die Ängste die Freude.

Fürchten Sie einen Angriff?

So etwas kann passieren. Es gibt leider einige Verrückte in Berlin, und viele Leute kennen mich mittlerweile aus der Presse.

Haben Sie schon bereut, dass Sie sich für Heinersdorf als Bauplatz entschieden haben?

Nein. Die Deutschen, die Europäer allgemein haben Angst vor dem Islam. Diese Ängste sind nachvollziehbar, denn das Bild des Islams ist schlecht. Fast überall, wo wir bis jetzt Moscheen gebaut haben, hat es deshalb Probleme gegeben. Aber so viel Aufregung, so viel Empörung wie hier haben wir bisher nicht erlebt. Hier wurde eine bestimmte Grenze überschritten.

Woran liegt das?

Ich weiß es nicht, und ich kann es nicht verstehen. Vielleicht stecken politische Gründe dahinter, vielleicht hetzt jemand die Leute gegen die Muslime, gegen unsere Gemeinde auf.

Hat Ihnen noch kein anderer Bezirk ein Baugrundstück angeboten?

Ich habe kein Angebot bekommen. Und wenn wir so ein Angebot bekämen – wer würde uns garantieren, dass an dem neuen Bauplatz nicht ebensolche Proteste losgingen? Die Politiker und die Behörden in Heinersdorf sind ja für die Moschee. Der Protest kommt von Anwohnern. Wenn wir an einen anderen Standort gingen, könnte uns das Gleiche passieren. Und wir haben hier bereits viel Zeit, Geld und Energie investiert.

Sie sind seit fast 25 Jahren in Deutschland, deutscher Staatsbürger seit fast zehn Jahren – sind Sie jetzt eigentlich von Deutschland enttäuscht?

Ich bin nicht enttäuscht. Ich bin Deutschland sehr dankbar. Wir sind eine kleine Gemeinschaft. Tausende von uns sind hierhergeflüchtet und mit offenen Armen empfangen worden. Unsere Gebete und unsere guten Wünsche gelten Deutschland. In Heinersdorf machen wir eine bittere Erfahrung, aber es gibt ja auch sehr viele Leute, die uns unterstützen. Ich bin also nicht enttäuscht, aber ich bin erstaunt. Ich kenne die Deutschen sehr gut. Dieses Verhalten habe ich nicht erwartet.

Sind Sie auch als Flüchtling nach Deutschland gekommen?

Nein. Ich bin auf Einladung der deutschen Ahmadiyya-Gemeinde als Geistlicher, als Arbeitnehmer, hierhergekommen.

Sie waren Anfang 30, als sie herkamen – wo haben Sie Deutsch gelernt?

Ich habe 1968 in Pakistan Abitur gemacht. Danach war ich sieben Jahre lang an der islamischen Ahmadiyya-Universität und habe dort arabische Literatur, arabische Sprache und Religionswissenschaften studiert. Dabei ging es nicht nur um den Islam, sondern auch um Christen- und Judentum, Buddhismus und Hinduismus. Danach habe ich dreieinhalb Jahre lang in Islamabad an der National University of Modern Languages die deutsche Sprache studiert. Meine Lehrerin war übrigens aus Berlin.

Und was haben Sie dort gelernt?

Dort habe ich deutsche Geschichte und deutsche Literatur studiert. Ich habe über den „Faust“ von Goethe eine Arbeit geschrieben, über die Stellung der Frau in Schillers Werken, ich habe den „Zerbrochenen Krug“ von Heinrich von Kleist gelesen und über den Charakter des Richters in diesem Buch eine Arbeit verfasst. Wir hatten dort auch sehr viele deutsche Zeitungen und Zeitschriften.

Was hat Ihnen denn die deutsche Literatur über die Deutschen verraten?

Ich habe einen wunderbaren Eindruck bekommen, das war eine wunderschöne Dichtung. Manches war für mich schwer zu verstehen, aber meine Lehrerin hat mir die deutsche Literatur, auch deren Geschichte, nahe gebracht. Für mich waren die Deutschen ein Volk von Genies, Leute, die intellektuell sehr, sehr hoch stehen und wunderbare Sachen machen. Bevor ich hierher kam, hatte ich bereits Hochachtung vor dem Land.

Und wie erging es Ihnen hier damit?

Kurz nachdem ich ankam, hatte ich ein kleines Schockerlebnis. Ich hatte eine Einzimmerwohnung in Frankfurt gemietet. Eines Tages habe ich meinen Schlüssel verloren und bei den Nachbarn geklopft, um um Hilfe zu bitten. Die haben die Tür nicht aufgemacht, nur durch die geschlossene Tür gerufen, ich solle zum Hausmeister gehen. Ich wusste damals gar nicht, was ein Hausmeister ist oder wo ich den finde. Danach habe ich solche Erfahrungen nicht mehr gemacht. Ich habe die Deutschen als hilfsbereit, offen und freundlich erlebt. Ich habe viele Freunde überall da, wo ich in Deutschland gearbeitet habe.

Die Ahmadiyya haben teilweise sehr strenge Regeln. War es für Sie schwer, hier nach Ihren Regeln zu leben, Ihre Kinder nach Ihren Vorstellungen zu erziehen?

Es gibt vielleicht manchmal Schwierigkeiten mit manchen Gewohnheiten der Deutschen. Zum Beispiel mit dem Schwimmunterricht oder sehr selten auch mit den Klassenfahrten.

Wie haben Sie das denn bei Ihren Kindern gehalten?

Als meine Kinder klein waren, haben sie am Schwimmen teilgenommen, das ist ja sehr gesund und förderlich. Und der Islam der Ahmadiyya erlaubt auch, dass Mädchen und Frauen Schwimmen gehen. Aber wenn sie erwachsen werden, dürfen die Mädchen nicht mehr im Badeanzug vor fremden Männern erscheinen. Nicht alle Männer sind höflich, manche belästigen die Frauen mit ihren Blicken.

Ab wann gilt das Verbot?

Sobald sie ihre weibliche Figur entwickeln. Das Verbot gilt nicht nur für die Mädchen, auch unseren Jungen ist es verboten, ab einem bestimmten Alter zusammen mit den Mädchen zu schwimmen. Wenn die Jungen und Mädchen ins Pubertätsalter kommen, empfiehlt uns der Islam, sie in bestimmten Angelegenheiten zu trennen, damit die Sexualität nicht unzeitig und unnötig angeregt wird.

Diese Trennung der Geschlechter nennen Sie Purdah, nicht wahr?

„In Heinersdorf machen wir eine bittere Erfahrung, aber es gibt ja auch sehr viele Leute, die uns unterstützen. Ich bin nicht enttäuscht, aber ich bin erstaunt. Dieses Verhalten habe ich nicht erwartet“

Ja, das heißt Purdah. Das ist ein sehr großer Begriff – ein Gesellschaftssystem, dessen Hauptziel ist, dass die Frauen in der Öffentlichkeit nicht belästigt werden, nicht sexueller Gewalt ausgesetzt werden, dass auch die Männer ihre Moral nicht verlieren. Wir wollen eine friedliche Gesellschaft, und die funktioniert nur, wenn Männer und Frauen sich gegenseitigen Respekt zeigen. Und das Kopftuch und die Trennung im Schwimmunterricht, das sind einige Maßnahmen, die der Islam empfohlen hat, damit wir eine friedliche Gesellschaft haben. Purdah-Maßnahmen sind eigentlich Schutz für das Familienleben.

Aber wir haben hier doch auch ohne Purdah eine friedliche Gesellschaft?

Ja natürlich, ich sage ja auch nicht, dass es ohne Purdah keine friedliche Gesellschaft gibt. Aber es gibt in Berlin auch viele Möglichkeiten, bei denen die Würde und die Ehre einer Frau verletzt werden. Es gibt überall und zu allen Zeiten eine bestimmte Anzahl von Männern, die nicht so moralisch, nicht so höflich sind. Und da wir nicht wissen, welche Männer das sind, ist es weiser, dagegen allgemeine Maßnahmen zu beschließen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn eine Mutter weiß, es gibt hundert Stück Schokolade und darunter eines, das giftig ist, dann wird sie ihren Kindern niemals erlauben, auch nur eines der Stücke zu essen.

Was machen Sie denn, wenn Jugendliche aus Ihrer Gemeinde sich nicht an diese strengen Regeln halten möchten?

Es gibt im Islam keinen Schleierzwang. Eine Frau, die keinen Schleier trägt, wird nicht bestraft. Die Eltern müssen ihre Töchter dazu erziehen – erziehen und nicht zwingen. Alle unsere Ahmadi-Mädchen gehen hier zu gemischten Schulen – damit haben wir keine Probleme. Sie sind gute Schülerinnen, auch wenn sie mit dem Kopftuch zur Schule kommen. Sie respektieren ihre Lehrer, denn wir erziehen unsere Jugendlichen zu Respekt den Erwachsenen gegenüber.

Was unterscheidet die Ahmadiyya von den anderen islamischen Glaubensgemeinschaften wie den Sunniten oder Schiiten?

Wir sind eine Reformgemeinde, gegründet von einem gottgesandten Propheten. Wir glauben an einen lebendigen Gott. Die anderen Muslime glauben, dass Gott schweigt, dass er nicht mehr spricht, es gibt keine Offenbarung, keine göttliche Mitteilung mehr. Außerdem haben wir einen Kalifen, der unser spiritueller Leiter, unsere Leitung zum Himmel ist, und diese Leitung haben die anderen Muslime nicht. Sie sind wie Schafe ohne Hirten. Wir versuchen genauso zu leben wie der heilige Prophet Mohammed, der Friede Gottes sei mit ihm. Deshalb sind wir dafür, dass auch in einem islamischen Staat Christen ihre Kirchen und Juden ihre Synagogen bauen dürfen. Wir sind für die Glaubensfreiheit.

Aber ein islamischer Staat ist schon Ihr Ideal?

Nein. Wir haben keine politischen Ziele. Als unser Religionsgründer antrat, hat er gesagt: Ich werde eine Gemeinde gründen, deren Mitglieder so fromm, so rechtschaffen, so moralisch sind, dass sie die Menschen durch ihr schweigendes Vorbild überzeugen, dass der Islam eine friedliche Religion ist. Dafür setzen wir uns intensiv ein.

Kommt es häufig vor, dass Angehörige anderer Religionen oder anderer islamischer Glaubensrichtungen zu Ihrer Gemeinde übertreten?

Sehr selten. In den sieben Jahren, die ich nun in Berlin bin, gab es zwei oder drei Übertritte. Diese Leute sind nach langen Überlegungen aus eigener Überzeugung zu uns gekommen, sie haben Bücher gelesen, viel mit uns diskutiert und dann den Entschluss gefasst. Unsere Aufgabe ist es, die Menschen zu informieren, nicht sie zu zwingen oder sie durch falsche Versprechungen zu uns zu ziehen. Jeder Mensch hat das Recht, sich zu einem Religionsübertritt zu entscheiden. Erstaunlicherweise treten ja in Deutschland vor allem Frauen zum Islam über. Es gibt so viel Propaganda, dass die Frau im Islam unterdrückt ist, und trotzdem treten gerade Frauen häufig über.