: Das große Leiden
FERIENENDE Vorne schieben sie Kinder rein, hinten kommen Teenager raus: Gedanken über die schlimmste Zeit unseres Lebens, in der uns niemand versteht, und falls man selbst mal was verstanden hat, hört wieder keiner zu
VON LEA STREISAND
Schulsekretärinnen, entkalkt eure Kaffeemaschinen; Lehrer, holt den Baldrian raus; Schüler, zieht euch warm an! Nächste Woche ist es so weit. Die Sommerferien sind vorbei, das neue Schuljahr beginnt.
„Justin, hör auf zu kippeln, Lukas, nimm die Füße runter, Lena und Marie, reißt euch zusammen, oder ich setz euch auseinander.“
Mein Theaterkurs in diesem Schulhalbjahr besteht nur aus Sechstklässlern, halb Jungs, halb Mädchen. Die schlimmste Auswahl überhaupt, das weiß ich aus Erfahrung. Irgendwann war’s mir echt zu blöd: „Sagt mal, ich glaub, ich spinne! Könntet ihr jetzt bitte alle mal klarkommen, damit wir hier anfangen können zu arbeiten?! Ich hatte schon Kurse mit Erstklässlern, die waren nicht so kindisch wie ihr! Was ist denn mit euch los, heute?“
Kurz herrschte Stille im Raum. Halb belustigt, halb erschrocken starrten sie mich an. Dann meldete sich Janek entschuldigend zu Wort: „Wir können nichts dafür,“ sagte er, „das sind die Hormone!“ Und da hat der Junge Recht. Blöd sind sie ja nicht in dem Alter. Eben nur unglaublich anstrengend. Und nach den Sommerferien ist die fieseste Zeit überhaupt. Ich beobachte das jetzt schon seit Jahren. Aus allen Ferien kommen sie ein bisschen verändert: ein bisschen gebräunt, ein bisschen gewachsen, neue Frisur, so was. Aber die Sommerferien sind teuflisch. Die Sommerferien sind ein großes Labor. Vorne schieben sie als Kinder rein, und dann fahren sie auf einem Förderband durch die verschiedenen Stationen: Hormondusche, Streckbank, Gesicht-OP, Mutationsmaschine. Wenn sie hinten wieder rauskommen, sind sie plötzlich Teenager. Falsche Menschen in falschen Körpern, die ganze Zeit Phantomschmerzen von den alten Körperteilen, die man ihnen weggenommen hat und Abstoßungsreaktionen gegen die neuen. Der eine Arm wurde an der falschen Stelle festgenäht, und das neue Gehirn ist zu groß für den kleinen Schädel. Frankensteins Festung war ein homöopathische Praxis dagegen.
Ich weiß noch, wie ich vor vier, fünf Jahren meinen ersten Kurs gekriegt habe: „Lea, hast du Bock, Kindertheater zu machen?“, fragte meine Freundin Frieda, „’ne AG anner Grundschule mit Sechstklässlern.“ „Sechstklässler!“, rief ich, „Zwölfjährige! Ach du Scheiße! Das ist das Alter, wo sie anfangen zu onanieren! Da fangen sie an, an Sex zu denken und dann dauert es vier Jahre, bis sie ihn kriegen!“
Es kam genauso, wie ich befürchtet hatte: Die Mädchen wollten alle Prinzessinnen sein, die Jungs alle Ritter. Am Ende sollte geheiratet werden, aber um Gottes Willen keines der Mädchen einen der Jungs, die hätten sich an der Schule sonst nicht mehr blicken lassen können.
Einmal habe ich mich getraut, einer Gruppe vorzuschlagen, dass doch auch einfach die Punkerin die Prinzessin heiraten könnte. „Gibt’s ja auch!“, hab ich gesagt. Sie hätten mich nicht anders angeschaut, wenn ich vor ihnen auf den Boden gekotzt hätte.
Zwölfjährigen braucht man echt nicht mit Postmoderne kommen. Von wegen jede Wahrheit ist nur eine Möglichkeit, alles ist kontextabhängig, und man kann die Sache auch genauso gut andersrum sehen. Vergiss es. Mit zwölf ist der Himmel blau, das Gras grün, Männer können nicht reden, Frauen nicht einparken, Fernsehen ist cool und Erwachsene sind scheiße.
Zwischen zwölf und zwanzig, da werden aus Kindern plötzlich Monster. Kleine leidende unglückliche Monster. Denn Pubertät, das ist nun mal ein einziges Leiden. Von wegen „Sweet Little Sixteen“ und „Siebzehn Jahr, blondes Haar“! Geben wir es doch einfach zu: Die Pubertät war die schlimmste Zeit unseres Lebens. Niemand versteht dich, und du verstehst die Welt nicht mehr, und wenn du doch mal was verstanden hast, dann hört dir keiner zu. Ständig musst du Anweisungen von unfähigen Autoritätspersonen befolgen, immer werden alle anderen bevorzugt, und am Ende bist du immer der Arsch und musst den Kopf hinhalten für Sachen, die andere verbockt haben. Das ist doch einfach nur zum Heulen! Bart Simpson drückt das so aus: Teenager in eine depressive Stimmung zu versetzen, das ist wie Fische aus einem Glas angeln.
Apropos ausdrücken. Natürlich sehen Teenager in einem bestimmten Alter auch rein ästhetisch scheiße aus: Alles ist irgendwie zu lang oder zu kurz, sie bewegen sich, dass man immerzu Angst hat, sie könnten sich dabei wehtun; die Stimme klingt beschissen, das Gesicht ist mit Beulen überzogen, für die man sie im Mittelalter aus der Stadt gejagt hätte, und stinken tun sie auch noch. Was war es schön, als wir letztes Jahr die Kleinen hatten, erste bis dritte Klasse. Das war ein Spielen! Denen war gar nichts peinlich. Und was modernes Theater ist, musste man denen auch nicht erklären. „Stellt euch vor, ihr seid auf einem Spielplatz.“ Ein kleiner Junge steht auf und fängt an, über die Bühne zu hopsen. „Was machst du da?“, frage ich. „Ich bin ein Gummiball“, sagt er.
Ein andermal haben wir Rübenziehen gespielt. Alle liegen so auf dem Boden, dass sie zusammen einen Stern bilden. Die Füße sind die Zacken. Jetzt haken sich alle Kinder fest bei ihren Nachbarn unter die Arme und einer, der nicht mit im Kreis liegt, muss versuchen, eines der Kinder an den Beinen aus dieser Umklammerung zu reißen, also die Rübe zu ziehen. Hat er das geschafft, müssen die anderen Kinder ganz schnell den Stern wieder schließen, damit nicht noch mehr Rüben gezogen werden. Die Exrübe wird dann zum Gehilfen des Gärtners und zieht mit. Ziel des Spiels ist für den Gärtner, möglichst alle Rüben zu ziehen; Ziel der Rüben ist, nicht gezogen zu werden.
Das war nicht unsere Idee, damit kamen die Kinder selber. Sie haben es geliebt. Meistens wurde das Spiel von uns vorzeitig abgebrochen, weil mindestens eines der Kinder irgendwann ohne Hose auf dem Boden lag. Es gab dann immer großes Geschrei. Die Kinder sahen überhaupt nicht ein, wieso ein nackter Arsch ein Grund zum Abbrechen sein sollte.
Mit zwölf ist das alles flöten. Mit zwölf sind diese aufgeklärten Transgenderfreidenkerexistenzialistenanarchisten alle zu Nazis geworden. „Das spielen wir nicht, das ist zu modern“, sagen sie dann oder „Das ist unlogisch!“ „Schminken wir uns heute?“ und „Wann spielen wir denn endlich richtig Theater?“ Manchmal treibt es mich zur Verzweiflung, und manchmal treibt es mir Tränen des Mitleids in die Augen. Denn: Das ist erst der Anfang. Wenn sie in die Oberstufe kommen, wird das noch viel, viel schlimmer. Dann spielen sie auch in den unbeobachtetsten Momenten nicht mehr Hopse auf dem Schulhof, weil es diese Momente für sie nicht mehr gibt. Dann wird jeder Gang zum Spießrutenlauf, jeder Blick zum Angriff. Da ist es nur folgerichtig, wenn sich hunderte junger Menschen von Heidi Klum und Dieter Bohlen öffentlich demütigen lassen. Wenn man sowieso ständig das Gefühl hat, nackt und mit Kotze am Kinn vor seinem Richter zu stehen, ohne zu wissen, wofür man angeklagt wird, dann ist die Realisierung dieser Horrorvision nämlich nichts weiter als der Versuch, das eigene Leiden endlich sichtbar zu machen. Nach dem Motto: So scheiße, wie ich mich selber finde, kannst du mich gar nicht machen.
In meinen düsteren Stunden überlege ich manchmal, welche meiner Mädchen wohl später Magersucht haben werden oder Bulimie, wer sich ins Koma saufen wird oder für sonstige Drogenkarrieren geeignet scheint. Wer von ihnen ist wohl homo- oder bisexuell und dadurch noch einsamer als alle anderen? Wird sich jemand das Leben nehmen?
Die Pubertät ist ein Höllenritt. Wir alle müssen ihn überstehen. Und manche von uns brauchen ihr ganzes Leben, um da wieder rauszukommen. Aber wenn wir es schaffen, dann sitzen wir vielleicht mit siebzig, achtzig auf der Parkbank und lächeln milde über die Hektik dieser Welt. Und dann nehmen wir unsere Zahnprothesen aus dem Mund und spielen ein bisschen Adams Family mit ihnen. Und vielleicht, wenn es die alten Knochen noch erlauben, legen wir uns dann alle auf den Fußboden, haken uns unter und spielen Rübenziehen, bis alle Ärsche nackt sind. Das wird lustig!
■ Der Text erscheint demnächst in der Anthologie „Das war nicht ich, das waren die Hormone. Geschichten aus der Pubertät“, hg. von Volker Surmann, Satyr Verlag