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Archiv-Artikel

ACHSE DER TANZMUSIK VON TIM CASPAR BOEHMEScheppernde Patina

Es gibt ein Leben nach dem Fußball. Darren Cunningham wollte als Jugendlicher eigentlich Profi-Kicker werden, aber dann holte er sich mit 17 eine schwere Knieverletzung, und schon war sein Karrieretraum vorbei. Stattdessen begann er sich für Clubmusik und Plattenauflegen zu interessieren und gründete vor ein paar Jahren sein eigenes Label Werk Discs für experimentelle elektronische Musik. Auf „Splazsh“, Cunninghams zweitem Album, treibt seine Vorliebe für Experimente mit Genres rund um den Dancefloor eine kantige Blüte nach der nächsten. Ob House, Dubstep oder Garage – die Musik von Actress ist all dies und zudem durch und durch britisch, entwischt aber mit jedem neuen Track in eine andere Richtung. Dabei geht es stets rau und spröde zu, allzu perfekte Produktion ist Cunninghams Sache nicht. Hauptsache, der Bass stimmt. Und der regiert mit Macht, gern auch digital verzerrt. Behaglichkeit kommt da keine auf, dafür stattet er den metallenen Landschaften des Detroit-Techno hin und wieder einen Besuch ab, wie alle anderen Klangszenarien mit scheppernder Patina überzogen. So hört man in der großen Vielfalt Cunninghams Signatur immer deutlich heraus, ganz gleich, wo er gerade Station macht.

■ Actress: „Splazsh“ (Honest Jon’s)

Bedrohliche Frequenzen

Dubstep gilt als Klang der Krise, und Steve Goodman alias Kode9 ist mit seinem Label Hypderdub einer der Produzenten der Stunde. Für die renommierte Mix-Serie „DJ-Kicks“ hat er jetzt eine Kostprobe seines aktuellen DJ-Sets abgeliefert. Wer von ihm einen linientreuen Dubstep-Parcours erwartet hätte, wird sich allerdings etwas wundern. Wie bei der Musik auf seinem eigenen Label versammelt Goodman in seiner Auswahl verschiedene Spielarten britischer Bassmusik, außer Dubstep bringt er Grime, Broken Beat oder UK Funky zu Gehör, auch der südafrikanische DJ Mujava ist mit einem Track vertreten. Künstler vom eigenen Label wie Ikonika, Cooly G oder Kode9 selbst dürfen auch nicht fehlen, dominieren aber nicht das Geschehen. Goodman, der sich als Wissenschaftler mit dem Zusammenhang von Club und Krieg beschäftigt und als DJ eine Schwäche für bedrohliche Frequenzen hat, zeigt sich im Mittelteil des Mixes von einer überraschend friedlichen R&B-Seite, die wenig mit Entspannungspolitik zu tun hat, sondern rein auf musikalischen Vorlieben beruht. Wenn darin eine Botschaft steckt, so lautet sie allenfalls: Die Krise mag zwar noch lange nicht vorüber sein, zwischendurch lockerlassen kann man trotzdem hin und wieder. Auch bei einem DJ wie Kode9.

■ Kode9: „DJ-Kicks“ (!K7/ Alive)

Rhythmische Erbauung

Wer beim Wort „Disco“ am liebsten „Nicht schon wieder!“ schreien möchte, hat Walter Gibbons noch nicht gehört. Das könnte sich sehr bald ändern, denn das Label Strut hat eine Auswahl von Edits beziehungsweise Remixen aus den Händen der New Yorker DJ-Legende zusammengestellt, die man gar nicht laut genug anpreisen kann. Gibbons gehörte zu den Pionieren der „Extended Mixes“, mit denen Disco-Titel eigens für die Tanzfläche neu zusammengesetzt und so gestreckt wurden, dass der Groove ganz allmählich seine volle Wirkung entfaltet. Das durfte schon mal mit abrupten Übergängen vonstatten gehen wie in Gibbons’ Version von Jakkis jubilatorischem „Sun… Sun… Sun…“ oder gestaltete sich als abenteuerliche Orchesterexkursion mit dem Salsoul Orchestra, freilich nie ohne durchgehenden Beat. In den Achtzigern infizierte sich Gibbons mit dem HI-Virus, konvertierte zum Christentum und hörte 1986 vollständig mit dem Produzieren auf. Zwei Jahre zuvor gelang ihm noch sein Meisterstreich, der zehnminütige Mix von Strafes „Set it Off“, eine perfekte Synthese aus Electro, Funk und Hiphop. Allein dieser Titel lohnt die Anschaffung, doch „Jungle Music“ versammelt auch unabhängig davon genügend Höhepunkte, um für rhythmische Erbauung der ausgelassenen Art zu sorgen. Unsterbliche Disco.

■ Walter Gibbons: „Jungle Music“ (Strut/Alive)