: Die Situation ist nicht entspannt
Kritik der Kritik (4): Das Theater steht auf dem Prüfstand, oft wird es nur mehr als Weltkulturerbe wahrgenommen. Wer sich dagegen auf neuere Diskurse aus Theorie und Politik einlässt, sprengt schnell den Rahmen der Bühne – und reizt die Kritik
■ Kritikfähigkeit wird heute von jedem Schulkind erwartet. Aber wie steht es denn damit in der Kultur?Ist Kritik auf dem Rückzug, bedrängt durch die Kulturindustrie? Ist sie nötiger denn je? Und wie soll/kann/muss sie heute aussehen? Eine Artikelreihe zum gegenwärtigen Stand des kritischen Handwerks
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Eigentlich sind wir Lokalreporter. Das ist, womöglich, schon eine der Erklärungen für das Dilemma, in dem man sich als Theaterkritiker oft zu befinden glaubt. Man schreibt über ein Stückchen Kunst, mit speziellem Zuschnitt für dieses Theater und dieses Ensemble, also site specific schon lange, bevor dieser Begriff in der bildenden Kunst erfunden wurde. Die Qualität einer Inszenierung in Hamburg liegt eben auch darin, nicht mit einer Inszenierung des gleichen Stücks in München austauschbar zu sein. Und doch muss man als Kritiker in der einen und der anderen Stadt genau das in der Inszenierung dingfest machen, was an ihrem speziellen Zugriff auch für die Leser in der anderen Stadt von Bedeutung sein kann. Damit ist die erste Versuchung markiert, sich in der Tonhöhe zu vergreifen und die Bedeutung des Gegenstands aufzublasen, damit er weithin sichtbarer werde.
Theaterkritik erfindet: Das ist die Macht, aus der sie Befriedigung schöpft. Sie erschafft das Projekt, über das sie schreibt, in größerem Maße für den Leser neu als Film-, Musik- und Literaturbesprechungen. Denn bei all diesen Medien schreibt der Kritiker potenziell immer auch für einen Leser, der den Film auch mal sehen, die Platte hören, das Buch kaufen wird – und der Film, die Platte, das Buch werden überall dieselben sein.
Die Theaterkritik dagegen spricht in einen Raum, in dem nur ein kleiner Teil der Leser die Inszenierung auch gesehen haben wird – und dann fast immer eine spätere Aufführung. Inszenierungen verändern sich, ein Teil lebt sogar davon, mit Formen, die nicht reproduziert, sondern immer neu wieder aufgebaut werden müssen, zu arbeiten. (Davon später mehr.) In der Kritik aber steckt man ein Bild davon fest. Man muss einen Text schreiben, der auf jeden Fall eine runde Sache ist, und dessen Verständnis die Kenntnis des Gegenstandes, den man verhandelt, nicht voraussetzen darf.
Das hat Folgen. Es bedingt zum einen, dass in dem Feld der öffentlichen Rezeption die geschriebene Kritik einen relativ großen Einfluss hat – sie kann eben leichter weitergereicht werden als das Produkt selbst. Sie ist aber, durch größere Unüberprüfbarkeit, auch viel anfälliger für den Verdacht, an der wahren Meinung der Rezipienten, dem Publikum, vorbeigegangen zu sein. Das, nicht zuletzt, sorgt dafür, dass die Situation zwischen Theaterproduzenten und Theaterkritikern oft nicht gerade entspannt ist.
In den Theatern selbst hat man, interessenbedingt, oft ein anderes Bild von der Funktion der Kritik als in den Zeitungen. Man wünscht sich dort mehr Vermittlung, mehr eine der kritischen Wertung vorausgehende Konturierung des Gegenstandes: Um was geht es überhaupt in dieser Inszenierung. Allein, das riecht den Redaktionen oft zu sehr nach Funktionalisierung. Und sie sind sauer, wenn die Krise der Theater mangelnden Vermittlungsleistungen der Kritik angelastet wird.
Eigentlich banal, diese unterschiedlichen Begriffe von Theater-Kritik; eigentlich eine Disposition, in der sich jede Kritik bewegt. Und doch erscheint es dem Theaterkritiker oft so, als würde gerade in seinem Bereich diese Spannung größer, aus unterschiedlichen Gründen. Sie haben sowohl mit wachsendem ökonomischem Druck in den Theatern als auch in den Zeitungen selbst zu tun. Sie resultieren aber auch aus der speziellen Geschichte der Theaterkritik, die sozusagen als klassisches Feuilletongenre sich selbst immer etwas von dem Verdacht befreien muss, nur von denkmalgeschütztem Gebiet aus und nur in den sicheren Gefilden der Hochkultur zu agieren. Nicht zuletzt spielt ein veränderter Begriff von Theater hinein, der selbst der Trennung von Hoch- und anderer Kultur abgeschworen hat.
Theater sind, zu einem großen Teil noch immer, hoch subventionierte kommunale Kulturbetriebe. Sie bekommen von den Kommunen das immer ungünstiger sich entwickelnde Problem von steigenden Ausgaben und weniger Steuereinnahmen mehr oder weniger weitergereicht und damit auch immer häufiger Zweifel an der Vereinbarung, gerade das Theater von allen Künsten so verbindlich wie zum Beispiel Schulen fördern zu müssen. Allein auf die Geschichte, die Deutschland so viele Stadttheater wie keinem anderem Land beschert hat, zu verweisen, reicht längst nicht mehr als Argument für die Fortschreibung. Der Legitimationsdruck wächst und damit das Bedürfnis, die Theaterkritiker am gleichen Strang wie die Theater ziehen zu lassen. Inzwischen mit der Aussicht, dass ihnen dann auf jeden Fall eine oppositionelle Haltung zur Politik und Ökonomie sicher ist.
Gesellschaftskritik leicht gemacht, der Theaterkritiker auf der Seite der Schwachen. So billig aber will man es auch wieder nicht haben, zumal dann in den Redaktionen schnell der Ruf des Lobbyisten mit Schützerkomplex auf einem lastet. Andererseits findet man als Theaterkritiker, dass in den Zeitungen selbst die Bühne, auf der man seine Meinung vortanzt, von mehreren Seiten beschnitten wurde, nicht erst in letzter Zeit.
Der edlere Konkurrent ist das Debattenfeuilleton, das zu Recht die Kulturseiten nicht über das Abarbeiten des Kulturkalenders definieren, sondern über Inhalte profilieren will. Okay, gebongt, auf diesen Zug sind ja auch die Theater selbst aufgesprungen, was ihre Kontextfähigkeit auf jeden Fall erhöht, ihre Produktpalette bereichert, das einzelne Produkt allerdings nicht unbedingt besser macht. Die zweite Bewegung, die innerhalb der Zeitungen dem Rezensenten auf die Füße tritt, geht eher von Geschäftsführungen und Verlagen aus: die Förderung von Veranstaltungstipps und Beilagen. Besonders in den Beilagen, die in regionalen Tageszeitungen monatlich ihre Theater vorstellen, verwischen die Grenzen zwischen Promotion und redaktionellem Beitrag immer mehr. Der Vorbericht und das Porträt aus redaktioneller Hand stehen neben den Pressetexten der Theater, und alles zusammen bewirbt die Häuser. Alle Beteiligten wissen, dass das keine Kritik ersetzt. Doch wird immer mehr an Beiträgen über Theater von den Feuilletonseiten dorthin geräumt.
Noch mehr fällt die Ersetzung kritischer Formate durch Ankündigungen in den Radioprogrammen auf, die für die Theater lange ein wichtiges Medium der Kritik waren. Da verschwimmen die Kenntlichkeiten von Promotion und Kritik in noch größerem Maße. „Unser Veranstaltungstipp“, so geht es los, und dann liest der Moderator der Musiksendung, der eben noch für jeden Song und jede Band seine ganz persönliche Begründung mitgeliefert hat, die Selbstdarstellung eines Theaterprojektes vor, so als wären es seine eigenen Impressionen. Kein Wunder, dass man da als Kritiker ins Grübeln gerät: über die eigene Glaubwürdigkeit und über die Indikatoren, die dem Leser oder Zuhörer eindeutig das eine oder das andere anzeigen.
Wie schon angedeutet, spielt in dem diffusen Feld von Ankündigung, der Vermittlung, was das Theater da treibt, und der Kritik an den Ergebnissen auch eine Veränderung der Theaterarbeit selbst eine große Rolle. Die Entwicklung kommt von der freien Szene und von Seiteneinsteigern des Theaters, wird aber auch immer mehr von städtischen Häusern aufgegriffen, gerade auch da, wo sich die Kunst wieder politisieren und in soziale Kontexte einmischen will. Das ist die Entwicklung vom Stück zum Prozess, von der Produkt- und Warenförmigkeit des geschlossenen Kunstwerks zum partizipatorischen und diskursiven Projekt.
An diesen diskursiven Theaterprojekten haben wir in der taz oft ein besonderes Interesse, berühren sie doch nicht selten ähnliche Themen: zum Stand der Kapitalismuskritik, aus den Gender- und Cultural Studies, zu den Folgeerscheinungen der Globalisierung usw. Theaterabende sind dann oft nur noch eine Schicht in einem Gewebe aus verschiedenen Perspektiven auf ein gesellschaftliches Phänomen. Wenn das in der Umsetzung gelungen ist – super. Aber wenn nicht (was öfter vorkommt), ist einem dann die Kritik am ästhetischen Scheitern wichtiger als das inhaltliche Andocken? Eine Frage, die oft unentschieden wie ein Bremsklotz mit durch den Text geschleppt wird.
Deutschland ist reich an Stadttheatern, es ist aber deshalb auch reich an diesen Projekten. Sie werden politisch unterstützt, zum Beispiel von der Kulturstiftung des Bundes, in der Hoffnung, dass damit die Theater die Arbeit ihrer Vermittlung in die Städte hinein wieder mehr selbst in die Hand nehmen und ein Publikum aus Konsumenten immer mehr zum Komplizen wird, der sich und das, was er artikulieren will, im Theater wiederfindet. Das könnte eine Brücke werden, dem Druck der Legitimation der Kunst zu begegnen. Es ist aber auch eine Verkomplizierung der Positionen im Geflecht Theater, Publikum und öffentliche Vertretung einer Meinung.
Man kann sich dagegen schützen. Indem man zum Beispiel am Werkbegriff festhält und an der erkennbaren Autorschaft. Dokumentartheater, inszenierte Stadtrundgänge, das Diffundieren von Theater in Momente von bildender Kunst und Installationen, die offene Stoffentwicklung – all das bleibt dann außen vor. Manche Theaterkritiker tun das und fahren nicht schlecht damit. Sie haben einen Ruf zu verteidigen, eindeutig Ja oder Nein zu sagen und keine schlingernden Weicheier zu sein. Ihre Rezensionen, besonders wenn es Verrisse sind, werden auch von denen goutiert, die anderer Meinung sind. Aber sie frieren das Theater auch in einem Stadium seiner Entwicklung ein, über die es nicht nur hinausgewachsen ist, sondern auch hinauswachsen muss, um weiter bestehen zu können.
Zugleich zielt die Entwicklung, dass das Theater aus seiner Eigenschaft, Medium vor Ort zu sein, wieder größeres Kapital schlägt, auch dahin, Ansehen und Kompetenzen der Theater regional zu stärken. Womit man wieder am Anfang angekommen wäre. Eigentlich ist man als Theaterkritiker ein Lokalreporter. Wenn schon, denn schon, dann wäre man sehr gern wenigstens auch ein reisender Lokalreporter, der, was in seiner Stadt passiert, mehr mit dem vergleichen kann, wie es anderswo ist. Reisespesen für Theaterkritiker gehören aber tatsächlich zu dem, was viele Zeitungen in den letzten Krisen, als die Anzeigenmärkte einbrachen, eingespart haben. Und das World Wide Web bietet in diesem Fall mal wirklich keinen Ersatz.