piwik no script img

Archiv-Artikel

Mieter müssen kusche(l)n

MIETEN Vor einem Jahr wurde die Kreuzberger Wohnung der Gülbols geräumt. Seitdem sind die Mietpreise weiter gestiegen, die Gentrifizierung hat längst auch die Außenstadt erfasst

VON ANTJE LANG-LENDORFF

Morgens um 6 Uhr in Kreuzberg. Aktivisten haben die Nacht auf der Lausitzer Straße durchgemacht, um die Räumung der Familie Gülbol zu verhindern. Als die Polizeiwannen anrücken und die Straße abgeriegelt wird, sind sie längst da. Über 800 Beamte und ein Hubschrauber sind im Einsatz. Hunderte Demonstranten sammeln sich vor den Absperrungen. Doch die Blockade nützt nichts: Die Gerichtsvollzieherin kommt als Polizistin verkleidet über einen Nebeneingang in das Haus und nimmt den Schlüssel der Familie Gülbol an sich. Die Wohnung ist geräumt.

Flächendeckendes Problem

Das war vor genau einem Jahr. Alle Medien berichteten groß. Die Gülbols wurden zum Symbol, seitdem stehen sie beispielhaft für all jene, die aufgrund der teurer werdenden Mieten aus ihren Kiezen verdrängt werden. Keine andere Räumung hat so viel Aufmerksamkeit erfahren.

Dabei hat die Dynamik auf dem Berliner Wohnungsmarkt nicht nachgelassen, im Gegenteil: Inzwischen sei die Gentrifizierung ein flächendeckendes Problem, also nicht nur im Zentrum, sondern auch außerhalb des S-Bahn-Rings, sagt Ilse Helbrecht, Professorin für Sozialgeografie an der Humboldt-Universität, im taz-Interview. Auch der jüngste Wohnmarktreport der GSW zeigt, dass die Preise bei Neuvermietungen in vielen Gegenden weiter anziehen.

Meistens erfährt die Öffentlichkeit nichts davon, wenn jemand seine Wohnung wegen der steigenden Mieten verlassen muss. Die Initiative „Zwangsräumungen verhindern“ versucht, besonders krasse Fälle publik zu machen. Ihrer Schätzung zufolge gibt es in Berlin jeden Tag zwanzig Zwangsräumungen. „Viele Leute finden einfach keine andere Wohnung, wenn sie raus müssen“, sagt David Schuster, der Sprecher der Initiative.

Er sieht jedoch auch positive Tendenzen. Es habe eine gewisse Sensibilisierung für das Thema gegeben. So seien Wohnungsbaugesellschaften nach den Protesten bei vergangenen Räumungen inzwischen vorsichtiger geworden, sagt Schuster. „Auch Richter schauen genauer hin, ob sie Leute räumen lassen, denen es richtig schlecht geht.“

Gute Nachrichten gab es am vergangenen Dienstag auch aus der Sozialverwaltung: Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger, die ihre Wohnung wegen der zu hohen Miete wechseln mussten, ist deutlich gesunken. 419 Zwangsumzüge von Haushalten, die Arbeitslosengeld II beziehen, zählte die Behörde im Jahr 2012. Zwei Jahre zuvor waren es noch 1.313. Sozialsenator Mario Czaja (CDU) führt das darauf zurück, dass das Land die Richtwerte für die vom Amt erstatteten Wohnkosten fortlaufend anpasst.

Nicht allen ist damit geholfen. Die Sozialgeografin Helbrecht hat mit ihren Studenten untersucht, wie sich Menschen verhalten, die wegen steigender Mieten ihre Wohnung verlassen müssen – und festgestellt: Die meisten versuchen unter allen Umständen, in ihrem Kiez zu bleiben. Sie ziehen ins Hinterhaus oder ins Erdgeschoss. Oder wohnen mit mehr Leuten auf weniger Raum. Sie rücken zusammen.

Insofern stehen die Gülbols wieder beispielhaft für eine größere Entwicklung: Sie leben nach wie vor in dem Haus in der Lausitzer Straße, in der Wohnung der Großeltern, zwei Stockwerke weiter oben. Zu siebt auf 110 Quadratmetern. Bei einem Besuch der taz sagt Malermeister Ali Gülbol über die Stimmung im Kiez: „Die Leute haben Angst. Sie mindern die Miete nicht, rufen auch bei Problemen den Vermieter nicht an. Jeder weiß, dass es ihn auch treffen kann.“

Ilse Helbrechts Thesen und ein Besuch bei den Gülbols ➤ SEITE 44, 45