: Und so lebe ich
SOSEIN I Lebensformen sind soziale Praktiken, sagt die Philosophin Rahel Jaeggi. Und über die kann man streiten
VON CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK
Jeder nach seiner Fasson, sagen die einen. Das Private ist politisch, die anderen. So kann man, zugegeben etwas salopp, die Frontstellung charakterisieren, an der sich Rahel Jaeggi mit ihrem Buch „Kritik der Lebensformen“ zu schaffen macht.
Die Berliner Philosophieprofessorin, im Dunstkreis der Frankfurter Kritischen Theorie groß geworden, will unterschiedliche Lebensformen nicht „zoologisch einhegen“, wie es etwa der Multikulturalismus mache. Sie sucht vielmehr nach Wegen, sie zu diskutieren und zu kritisieren. Und wendet sich damit gegen John Rawls und Jürgen Habermas, die für philosophische und gesellschaftliche Enthaltsamkeit plädieren, was Fragen der ethischen Lebensführung angeht.
Um es gleich zu sagen: Auf dem Spiel steht, ob und wie man sich beispielsweise zur Beschneidung von Knaben oder der Betreuung von bis zu Dreijährigen allein durch die Mutter stellt. Brenzlige Fragen, sicher. Und warum nicht die Philosophie befragen, wenn sie auf der Agenda stehen. Nur geht es bei Jaeggis Einsatz recht spitzfindig zu. Denn Habermas wäre sicher der Letzte, der solche Diskussionen unterbinden wollte. Abgesehen davon sind Fragen wie diese ja faktisch immer wieder Gegenstand hitziger öffentlicher Diskussionen.
Nur, so das liberale Argument, fallen die unterschiedlichen Lebensformen eben in einen Bereich, den der Staat nicht reglementieren dürfe und über den sich auch nicht vernünftig diskutieren lasse, weil er sich rationalen Argumenten entziehe. Die Beschneidungspraxis saß deshalb auf dem heißen Stuhl, weil unklar war, ob sie wegen der von ausgewählten Männern reklamierten Grausamkeit vielleicht gar nicht dem Bereich der Lebensführung allein zuzuschlagen ist. Sondern: ob der Staat hier schützend tätig werden müsse, da es sich, wie Philosophen das nennen, um eine Frage der Moral und nicht der Ethik handele.
Aus eben diesem Bereich, dem der Ethik, löst nun Jaeggi einige Fragen heraus und versucht in dem Buch zu begründen, warum sie nicht in der Wüste der Unvernunft anzusiedeln sind. Es gehe nämlich bei vielen von ihnen, etwa bei den Fragen, ob man besser verheiratet oder unverheiratet Kinder aufzieht, ob es sich dabei um gleichgeschlechtliche Partner handeln könne oder nicht, nicht nur ums „gute Leben“, sondern darum, ob es gut funktioniere. Ergo sei in sie eine spezifische Rationalität eingelassen. Und über die lasse sich mit guten Gründen streiten. Lebensformen versteht Jaeggi als experimentelle, in Krisen jeweils zu modifizierende Lernprozesse.
Eine Universalwaffe
Folgenschwer für Jaeggis Ansinnen: Sie spart von den Begründungen, die sich für ein Ensemble sozialer Praktiken – mithin eine Lebensform – geben lassen, eine wieder aus. „Ich werde hinsichtlich der Konstituierung von Lebensformen die konventionalistische Normbegründung zurückweisen“, heißt es lapidar. Am Ende also bestimmt auch sie eine Zone, über die sich nicht diskutieren lässt. Aber wird es nicht genau hier interessant?
Dem Buch kann man darüber hinaus entnehmen, wie Jaeggi diejenigen Aspekte von Lebensformen diskutieren will, die sich ihrer Auffassung nach diskutieren lassen. Es handelt sich um jene, die sich auf ihr „gutes Funktionieren“ beziehen. Einem Familienvater, der aus dem Nationalsozialismus die Lehre gezogen haben will, dass man sich besser aus der Politik raushalte, und damit ganz gut gefahren ist – eines ihrer wenigen alltagsweltlichen Beispiele –, lasse sich Folgendes entgegenhalten: In einer demokratisch verfassten Gesellschaft könne gerade politische Einmischung verhindern, dass Ähnliches wie im Nationalsozialismus wieder geschehe. Ideologiekritik heißt Jaeggis Universalwaffe. Mit der Schlagkraft dieser Kritik ist es jedoch so bestellt: Sie ist um das „beste“ Argument nie verlegen und wird ihres überlegenen Gestus wegen umgehend zurückgewiesen.
Eine Liberale ist Jaeggi aber doch: „Es ist nicht der Pluralismus der prinzipiellen Aussetzung solcher Fragen, sondern ein Pluralismus der Auseinandersetzung um die richtige Lösung des Problems der gelingenden Lebensform.“ Den Staat und seine Gesetze und Verbote möchte Jaeggi dabei allerdings auch nicht mit im Boot haben.
Die gegebene philosophische Empfehlung könnte man so zusammenfassen: Jeder wie er will, außer es fällt einem was Schlaues dazu ein. Viel heiße Luft, die ein wenig nach der riecht, die Lebensratgeber umgibt, auch wenn es in ihnen konkreter zugeht.
■ Rahel
Jaeggi: „Kritik von
Lebensformen“. Suhrkamp, Berlin 2013, 451 Seiten, 20,60 Euro