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Archiv-Artikel

Die Gedanken-Pflegerin

Fernsehsender meiden sie, Bischöfe fürchten sie und mit Papst Ratzinger lernte sie Latein: Die Essener Kirchenkritikerin und erste Frau auf dem Lehrstuhl für katholische Theologie Uta Ranke-Heinemann. Sie blickt auf ein bischofshöriges NRW

von ANNIKA JOERES

Diesen Abend hatte Uta Ranke-Heinemann geplant. „Heute sage ich es“, hatte sie schon beim Mittagessen in der kleinen Küche zu ihrem Mann gesagt. Und sie sagte es dann Millionen Zuschauern und dem neben ihr im Fernsehstudio sitzenden Bischof: „Die Jungfrauengeburt ist eine Legende.“ Wenige Wochen später im Jahr 1987 verlor die weltweit erste Frau auf einem Lehrstuhl für katholische Theologie ihre Lehrerlaubnis. Sie erfuhr es nur aus dem Radio.

„Die Bischöfe hatten Angst vor mir“, sagt sie heute. Sie sitzt wieder in ihrer kleinen, voll gestopften Küche, eine zierliche 78-jährige Frau in ihrem grünen Lederkostüm, „meiner Erkennungsmelodie“, wie sie sagt. An der Wand hängen Zeitungsschnipsel internationaler Zeitungen, Scheren, Plastikweintrauben, eine halbe Chorizo. Ihre Gedanken drehen sich blitzschnell, oft kommt sie ihnen kaum mit Worten nach. Nachts findet Ranke-Heinemann keinen Schlaf. Als sie etwa sieben Jahre alt war, sagte ihre Mutter einmal erschrocken zu ihrem Vater: „Gustav, guck mal, Uta sitzt mit einer griechischen Grammatik unter dem Christbaum“. „Ich war ein Wahnsinnskind“, sagt sie. „Ich wollte alles wissen und durchdenken“.

Ihrem frommem und konservativen Vater, dem ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann, war die Wissbegier der Tochter nicht geheuer. Der kleinen Uta versprach er 50 Pfennig für jede Fünf, die sie schrieb, zehn Pfennig gab es für ein Sehr gut. Auch das nützte nichts. „So blieb ich eben arm“, sagt sie lachend.

Nach dem Krieg besuchte sie das Essener Burggymnasium und war dort das einzige Mädchen. Ihr Abitur machte sie „mit Auszeichnung“, was auf dem Burggymnasium 30 Jahre davor zum letzten Mal passiert war. Die Seminarbank an der Uni München teilte sie mit Joseph Ratzinger. Gemeinsam übersetzten sie ihre Doktor-Thesen ins Lateinische. „Wir hatten gegenseitige Achtung voreinander“, sagt sie. „Ratzi-Patzi“, wie sie ihren ehemaligen Kommilitonen nennt, sei der einzige gewesen, der ihr auch nach ihrer Exkommunikation noch freundlich geschrieben habe. Als er zum Papst ernannt wurde, hegte sie Hoffnungen auf ihn. Aber seit er am Kondomverbot sogar für Aidsinfizierte festhält und die infizierten Ehefrauen als „Märtyrerinnen unseres Jahrtausends“ bezeichnen lässt, ist sie nur noch enttäuscht von ihm. Und sagt über ihn: „Für einen Unfehlbaren spricht er sehr schlecht Italienisch.“

Warum sie nach ihrem evangelischen Theologiestudium in die katholische Kirche eintrat? „Ich suchte Toleranz und kam vom Regen in die Traufe.“ Der Streit zwischen der Amtskirche und der Wissenschaftlerin war vorprogrammiert. „Aber auch der Staat ist nicht freundlich mit mir umgegangen“, sagt sie. Da habe auch ihre Verwandtschaft mit Johannes Rau nichts genützt: Der mittlerweile verstorbene langjährige Ministerpräsident heiratete ihre Nichte Christina. „Ihm haben meine Bücher nicht gefallen“, sagt sie.

Erst kurz vor seinem Tod im vergangenen Frühjahr seien sie sich sehr nahe gekommen. Jahre zuvor waren sie noch direkte KonkurrentInnen: Uta Ranke-Heinemann kandidierte bei den Landtagswahlen 1980 für die Friedensliste in NRW, während der Sohn eines Wanderpredigers für die SPD absolute Mehrheiten errang. „Ich war schon immer das schwarze Schaf der Familie“, sagt sie. 1999 kandidierte sie gegen den Menschenfischer als Bundespräsidentin für die PDS. Ohne eine echte Chance. Sie wollte gegen den gerade beginnenden Kosovokrieg mit deutscher Beteiligung protestieren. „Ich sah und hörte wie versteinert jeden Abend im Fernseher die Bomben fallen“, sagt sie. Die Grünen für die Nato-Angriffe, Erhard Eppler auch, so viele von den Leuten, mit denen sie am 10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten gegen die Nato-Nachrüstung demonstriert hatte.

„Nein, für Politik habe ich mich nie interessiert“, sagt sie. In Nordrhein-Westfalen wurde sie dennoch zum Politikum. Die damalige Kultusministerin Anke Brunn, Sozialdemokratin und Protestantin, sagte im Radio, sie könne die Entscheidung der Kirche nachvollziehen. „So wurde ich von Mutter Kirche und Vater Staat gleichermaßen im Stich gelassen“, sagt sie. „Das Land ist nach wie vor bischofshörig.“ Ständig werde sie von Fernsehsendern ausgeladen. Allein sechs Mal vom ZDF, oft auch vom WDR und anderen Sendern. Sie vermutet wieder die Angst der Bischöfe vor ihrer Eloquenz dahinter. Zwölf Sprachen beherrscht sie. Bei öffentlichen Auftritten hat sie das griechische Neue Testament neben sich liegen, stets bereit, daraus zu zitieren.

Die Kritikerin will die Kirche dennoch nicht abschaffen – obwohl sie fast alle kirchlichen Überzeugungen ablehnt. „Ich will eine Reformation, die alles belässt, wie es ist“, sagt sie, „weil niemand gezwungen werden darf. Denn die Menschen sind am gefährlichsten in ihrem Kampf für das höchste Gut, für Gott.“ Jeder spreche von „religiösem“ Fanatismus, dabei sei Fanatismus immer religiös, einen anderen gibt es nicht. Fanum sei das Heilige.

Zwei Sachbücher, „Eunuchen für das Himmelreich“ und „Nein und Amen“, hat sie veröffentlicht, jedes verkaufte sich millionenfach. Im zweiten, in „Nein und Amen“, verabschiedet sich Ranke-Heinemann vom traditionellen Christentum. Sie hat statt dessen ihre Glaubenssätze aufgestellt: Die Bibel ist Menschenwort. Jesus ist Mensch und nicht Gott. Maria ist Jesu Mutter und nicht Gottesmutter. Gott hat Himmel und Erde geschaffen, die Hölle ist von den Menschen erfunden. Es gibt weder Erbsünde noch Teufel. Eine blutige Erlösung am Kreuz ist eine heidnische Menschenopferreligion nach religiösem Steinzeitmuster.

Ihre Überzeugungen haben Christen und Nichtchristen aufgebracht. Nach ihrem folgenreichen Fernsehauftritt erhielt sie jeden Tag mehrere Riesenpakete mit Briefen, darunter viele Drohbriefe. „Ich hatte richtig Angst“, sagt sie. „Verrückte schreiben mehr, fromme Verrückte am meisten“, sagte ihr eine befreundete Psychoanalytikerin.

Fans hat sie trotzdem weltweit gefunden. Ihr grünes Kostüm ist mittlerweile durchlöchert. „In Polen hat mein Buch den Papst auf den zweiten Platz der Bestsellerliste verdrängt und danach auch noch aus den ,wichtigsten Büchern des Jahres` vertrieben“, freut sie sich noch heute. Inzwischen sind ihre Bücher in Polen verboten. Geblieben sind aber ihre akribisch ausgeschnittenen Zeitungsartikel aus polnischen Zeitungen an ihrer Küchenwand.

Die Wände ihrer Wohnung sind bedeckt mit fremdsprachigen Enzyklopädien. Sie liest sie von vorne bis hinten. Vier Computer, beklebt mit Zettelchen über Tastenkombinationen stehen dort. Allein der Hometrainer im Wohnzimmer stört den Eindruck einer Bibliothek in einer Universität. Jeden Abend tritt sie, begleitet von Vatikan TV, in die Pedalen, abgelöst von Sendungen in französischer, spanischer oder russischer Sprache. Sie hat eine ganze russische Bibliothek. „Fremde Worte sind wie Flöhe. Ich muss sie jeden Tag pflegen“, sagt sie. Auch beim Zähneputzen läuft ein ausländischer Radiosender.

Es war auch ein ausländischer Philosoph, der Franzose Descartes, der ihr eine lange schwelende Frage beantwortete. „Seit ich viereinhalb Jahre alt war, wollte ich wissen: Was passiert nach dem Tod?“ Eine Frage, die umso mehr in ihr brannte, als sie ihren „über alles geliebten Mann“, ihren Klassenkameraden vom Burggymnasium, verlor. Bis heute, fast fünf Jahre später, bezeichnet sie sich als „voller Ungetröstetheit“. Der Tod ihres Mannes habe sie aus der Verankerung gerissen, sagt sie. Sie schaffte es nicht, zu seiner Beerdigung zu gehen. Stattdessen las sie die französische Gesamtausgabe von Descartes wieder und wieder und grübelt über einen Satz dieses Philosophen des 17. Jahrhunderts nach. Er sagt: „Wir Menschen sind geboren für viel größere Freuden und ein viel größeres Glück, als wir sie auf dieser Erde erleben können, und wir werden die Toten dereinst wiederfinden.“ Das half ihr etwas über den größten Verlust ihres Lebens hinweg. Die Exkommunizierung hingegen konnte Uta Ranke-Heinemann nie etwas anhaben.