: Die private Tragödie
KAMMERSPIEL Carlos María Domínguez’ Roman „Die blinde Küste“ erzählt knapp und eindringlich von unerfüllter Liebe und einem historischen Verbrechen
Die Diktaturaufarbeitung in Argentinien ist in vollem Gange und viele der dortigen Gegenwartsautoren beschäftigen sich auf die ein oder andere Weise mit dem Thema. Unter ihnen Carlos María Domínguez, dem dabei mit „Die blinde Küste“ ein vielschichtiger, präziser und spannender Roman gelungen ist. In knapper, extrem komprimierter Form erzählt er auf nicht mehr als 130 Seiten, wofür andere 1.300 beanspruchen würden.
Es ist ein verdichtetes Kammerspiel, inszeniert an der uruguayischen Küste. Domínguez lässt hier in der Abgeschiedenheit des kleinen, eher hippieesken Badeorts Valizas die verschiedenen Biografien extremer und extrem unterschiedlicher Menschen zusammenlaufen, deren Geschichte durch verbrecherische Ereignisse in den 1970er Jahren miteinander verknüpft ist, ohne dass sie es voneinander wissen.
Da lebt die wunderliche Familie Doghram hinter hohen Hecken mit ihren zwei Töchtern. Thomas Doghram schießt Nachts Vögel. Brenda, die Frau, war in Buenos Aires noch Lehrerin, ist jetzt ohne Stadt und Liebhaber und hauptberuflich melancholische Trinkerin, die sich mit dem Privatunterricht der erwachsenen Töchter Sara und Rosie beschäftigt. Sara ist geisteskrank, Rosies einziger erlaubter Kontakt zur Außenwelt sind Romane. Zart und sensibel sind Rosies Versuche, mit dem Gärtner Arturo in Beziehung zu treten. „Nichts davon konnte Arturo wissen, während er den Rasen mähte, die Hecken stutzte und auf ein Zeichen von Rosie wartete.“ Arturo lebt zwar außerhalb des Hauses, aber komplett in sich gekehrt, in einer Art innerer Gefangenschaft.
Das Liebeszeichen von Rosie wird ihn genauso wenig erreichen wie das seiner einst in den 1970er Jahren von einem Tag auf den anderen verschwundenen Freundin in Buenos Aires. Damals wurde er fast verrückt, wurde Penner, dann Hirschjäger in den Wäldern, bis er im Laufe der Jahre und wieder zu Hause in Uruguay halbwegs festen Boden unter die Füße bekam.
Domínguez’ Geschichte entfaltet sich langsam. Sie rollt harmlos daher – im Chevrolet über den Asphalt, aus dem Radio Cumbia: „Ay amor, ay amor perdido“ – um sich am Ende mit der unberechenbaren Naturgewalt des Atlantiks Bahn zu brechen. Dass Domínguez die Geschichte aus der Jetztzeit erzählt, ist dabei mehr als ein literarischer Kniff. Sie entspricht dem Bemühen des Autors, nicht einfach in den alten Geschichten steckenzubleiben, stattdessen auch literarisch den Veränderungen und neuen Subjektivitäten Platz zu geben, die sich nicht bruchlos in das vergangene Links-rechts-Schema der argentinischen Kämpfe fügen.
Arturo trifft an der Raststätte Camboya, die sich ihren Namen aus Protest gegen ihr linkes, PC- und geschichtsbewusstes Elternhaus zugelegt hat. Zwischen den beiden entspannt sich keine schmalzige Liebesgeschichte am Strand von Valizas. Nein, denn dazu ist Domínguez’ Roman „Die blinde Küste“ im Denken viel zu hart und existenzialistisch. Die beiden Außenseiter aus verschiedenen Generationen haben sich gar nichts zu sagen. Und doch, so will es Domínguez, werden sie sich alles sagen. Camboya, deren aktuelle Lebenskrisen (fehlgeschlagene Lieben, Abtreibung, elternhafte Bevormundung) sie nach Uruguay führen, wird unwissentlich Arturos seelischen Fluchtpunkt zum Einsturz bringen.
Literarisch gekonnt verbindet Domínguez kleine mit großen Fragestellungen, ohne moralisch zu vereinfachen. Im wirklichen Leben diskutiert die argentinische Gesellschaft gerade die mysteriöse Herkunft der zwei Kinder von Ernestina Herrera de Noble. Herrera de Noble, greise Eignerin von Argentiniens mächtigster Mediengruppe Clarin, versucht aktuell, die genetische Abklärung ihrer Adoptivkinder zu verhindern. Sie sollen von ermordeten Oppositionellen abstammen.
Fraglos müssen diese Verbrechen aufgeklärt und gesühnt werden. Dennoch zeigt Dominguez’ Roman auf die privaten Tragödien hinter der großen Auseinandersetzung, die sich nicht ausschließlich mit den Formeln der Rechtsprechung klären lassen. Die Nachgeborenen müssen ihr heutiges Glück auch gegen die Instrumentalisierungen älterer Generation beider Seiten suchen und finden.
ANDREAS FANIZADEH
■ Carlos María Domínguez: „Die blinde Küste“. Roman. Aus dem argentinischen Spanisch von Susanne Lange. 137 Seiten, 15,90 Euro