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Archiv-Artikel

Das Maß der Vergeltung

DAS SCHLAGLOCH von ILIJA TROJANOW

Wenn drei entführte Soldaten mehr wiegen als 1.000 unschuldig Inhaftierte, hat sich der Verstand verwirrt

„Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“, steht zu Beginn des „Sachsenspiegels“, der ersten Gesetzessammlung deutscher Sprache. Dieses einfache und einleuchtende Prinzip gilt bis zum heutigen Tag, so nützlich hat es sich im Alltag erwiesen, an Postschaltern ebenso wie bei der Essensausgabe in Kasernen und Kantinen.

Es ist ein guter Richtsatz, weil er verhindert, dass wir uns auf einen Knochen werfen wie ein Rudel Hunde. Aber er hilft nicht wirklich weiter, wenn die Mühle nicht das Korn aller Wartenden mahlen kann. Vermeintlich zumindest – oft reicht das Gerücht, es sei nicht genug für alle vorhanden, um eine Menge, eine Gemeinschaft oder gar ein ganzes Volk in Panik zu versetzen. Es folgen Verteilungskämpfe, bei denen ein anderer, eher gegenteiliger Grundsatz gilt, obwohl er von seinem Konzept her verwandt scheint: Wer als erster Böses tut, hat unrecht. Oder einfacher gesagt: Du hast doch angefangen!

Im Krieg gegen den Libanon, oder müsste man sagen in der Strafaktion gegen die Hisbollah, wird rigoros auf dieses Prinzip zurückgegriffen. Jeder rhetorische Angriff, jede verbale Verteidigung benutzt dieses Prinzip, als sei es eine moralische Wunderwaffe. Diplomatie und Internationales Recht sind Schall und Rauch – wichtig ist nur, sich als derjenige zu positionieren, der auf erlittenes Unrecht reagiert, der sich verteidigt, der sich schützt.

Doch die Frage, wer angefangen hat, ist bekanntlich sehr schwer zu klären, wie wir schon seit Kindergartentagen wissen. Der Mensch neigt grundsätzlich dazu, seine Taten als Reaktion auf die Handlungen seines Gegners zu begreifen. Schuldzuweisungen funktionieren daher bei in langen Jahren etablierten Konflikten wie unendliche Matroschkas:

Die Selbstmordanschläge in unseren Städten;

die Vernichtung unserer Lebensgrundlage;

die Entführung von unseren Soldaten;

die Ermordung unseres Anführers;

das Attentat auf unsere Sportler;

der Raub unseres Landes;

und wie war es 1967;

und wie 1949;

Und ehe man sich’s versieht, ist man in biblischen Zeiten angelangt. Momentan rächt sich Israel also für die Rache der Araber an der Rache Israels, die wiederum … – derweil wird gemordet, was die Vergeltung hält. Das Problem ist, dass durch diese Absolution jede noch so abscheuliche Handlung reingewaschen wird.

Die Keule der Selbstgerechtigkeit schlägt nicht nur alle ethischen Einwände kurz und klein, sie zerstört auch unsere Menschlichkeit, weil wir das Unentschuldbare sauberreden. Kinder werden zerfetzt, und wir diskutieren über die Verhältnismäßigkeit der „Reaktion“ Israels. Ein Viertel wird kaputt gebombt, und wir heben einen anklagenden Finger in Richtung Hisbollah.

Wenn drei entführte Soldaten mehr wiegen als tausend unschuldig Inhaftierte, hat sich der Verstand verwirrt. Schon 1998 hat Amnesty International in einem Bericht erklärt, dass Israel zugegeben habe, wahllos Libanesen zu entführen als Verhandlungsmasse, um sie gegen eigene Soldaten zu tauschen. Manche von ihnen seien schon seit zehn Jahren an geheimen Orten in Einzelhaft festgehalten.

Typisch ist die Erklärung von Israels Regierungssprecherin Miri Eisin, die Hisbollah verstecke sich im Südlibanon und in Beirut unter der Zivilbevölkerung und sei daher verantwortlich für die Opfer unter den Zivilisten. Das mag zwar stimmen, taugt aber als Rechtfertigung für Mord und Totschlag überhaupt nicht. Man möge sich nur einmal vorstellen, die Polizei würde alle Reisenden am Hauptbahnhof erschießen, weil Terroristen sich unter sie gemischt haben. Reichte uns als Begründung, dass manche der Reisenden die Terroristen wohl absichtlich schützen würden.

Wer angefangen hat, ist sehr schwer zu klären, wie wir schon seit Kindergarten-tagen wissen

Vor einigen Tagen sagte der israelische Premier Olmert: „Wir werden sie stoppen. Wir werden nicht zögern, die strengsten Maßnahmen gegen jene zu ergreifen, die tausende von Raketen gegen unschuldige Zivilisten richten, mit dem einzigen Ziel, sie zu töten.“ Ich zweifle nicht daran, dass Herr Olmert diese Sätze mit inbrünstiger Überzeugung von sich gegeben hat, aber natürlich entgeht keinem Betrachter die grimmige Ironie, dass Israel genau das tut, was es bei seinem Feind verhindern will.

Hunderte von Zivilisten sind getötet, und eine Million Libanesen vertrieben worden, und nur die gebetsmühlenartig wiederholte Anklage „ihr habt angefangen“ steht zwischen dem Staat Israel und der Schuld an einem Angriffskrieg oder an Massenmord. Ich weiß, die Hisbollah hat zuerst gemordet, aber gebe es die Hisbollah, wenn Israel den Libanon nicht okkupiert hätte, was wiederum nicht geschehen wäre, wenn die PLO sich vom terroristischen Kampf losgesagt hätte, was …

„Mensch kann man nur von den anderen genannt werden“, lautet ein Sprichwort der Schona in Zimbabwe. Da wir uns selbst nicht sehen können, brauchen wir die Anderen, um die Welt vor unserer egomanen Selbstgerechtigkeit zu schützen. Genau in dieser Betrachtung besteht ein menschlicher Umgang miteinander: den Blick der Anderen auf uns selbst wahrzunehmen und zu respektieren.

Wer diese Fähigkeit verliert, wird zu einem Monstrum, das nur die Sprache der Apokalypse versteht – kein Wunder, dass die evangelischen Prediger in den USA längst dazu übergegangen sind, den Krieg gegen Terror zu jenem letzten Showdown zu erklären, der die Wiederkunft des Erretters und das Ende des Welt vorbereitet.

Nur in der fiebrigen Traumwelt des religiösen Wahns kann die eigene Verrohung zu einem hehren Ideal umgepolt werden. In der Denkweise unterscheiden sich die Fernsehprediger nicht von den Selbstmordattentätern, wobei die „Märtyrer“ den Verlust ihrer Menschlichkeit folgerichtig mit dem Leben bezahlen, die Prediger hingegen mit noch höheren Einschaltquoten.

All diesen Apologeten des Krieges und der Vernichtung des Anderen sollte ein dritter, ihnen gewiss geläufiger Grundsatz in Erinnerung gerufen werden: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Oft gescholten wegen seiner vermeintlichen Brutalität, ist dieser biblische Satz von einer größeren Humanität als die politische Diskussion unserer Tage. Denn das Maß der Vergeltung wurde in alttestamentarischen Zeiten rigide eingegrenzt. Nur ein Auge für ein Auge, nur einen Zahn für einen Zahn. Die israelischen Entscheidungsträger und die Kriegshetzer im medialen Hintergrund könnten an ihrem eigenen heiligen Text über sich hinauswachsen.